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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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Docks lernte sie mehr als in den Bänken der Hörsäle. Annette begleitete sie, wenn ihr bei strahlendem Wetter die Lust zum Schulbesuch fehlte. Für modernen Schiffsbau hatte sie wenig übrig, doch die Geschichte der Werftanlagen interessierte sie, und außerdem waren die beiden Mädchen, die keine Geschwister hatten, von Kindheit an unzertrennlich.
    »Ist das dein Ernst?« Annette stieß ihr den Ellbogen in die Seite. »Dich interessiert dieses bleigraue Ungetüm, das du jeden Tag begaffen kannst, mehr als ein Adonis, wie du ihn so schnell nicht wieder zu sehen bekommst?«
    »Verschone mich mit griechischer Mythologie!«, rief Selene, tat ihrer Freundin aber den Gefallen und drehte sich nach dem Mann mit dem Seesack um. Der sprach mit einem der Ingenieure vom Reparaturdock, der ihm dem Anschein nach nicht weiterhelfen konnte. »Du übertreibst übrigens. So schön wie der ist meine Sirius allemal.« Ganz sicher, ob sie damit recht hatte, war Selene nicht. Dass ein Dreadnought-Schlachtschiff an Eleganz zu wünschen übrigließ, war nicht zu bestreiten, und liebend gern hätte sie einmal den Bau eines Passagierdampfers erlebt. Aber Portsmouth war nun einmal Marinestützpunkt, und sie konnte froh sein, sich überhaupt in den Docks herumtreiben zu dürfen. Ohne den Einfluss ihres Onkels wäre ihr dies nie gestattet worden, und ihm verdankte sie es auch, dass sie Vorlesungen an der Universität von Portsmouth hören konnte, an der die Ingenieure der Docks ausgebildet wurden. Ein Abschluss würde ihr als Mädchen allerdings verwehrt bleiben.
    Was den Mann mit dem Seesack betraf, so war Annettes Euphorie nicht verwunderlich. Der Kerl war so groß, dass er als Drehkran getaugt hätte, und die graziöse Leichtigkeit, mit der er sein Gepäck über der Schulter trug, suchte ihresgleichen. Sein Haar fiel in braunen Wellen, mit denen der Wind spielte. Er sieht aus wie ein Mann, der gern lacht, dachte Selene und ärgerte sich, dass sie sich von Annette hatte anstiften lassen, über den völlig uninteressanten Fremden nachzudenken.
    Hätte sie nicht andere Sorgen haben sollen? Sie war fast zwanzig, und wenn sich nicht bald ein Weg fand, aus Portsmouth rauszukommen, würde sie hier versauern. Ihre Möglichkeiten an der Universität hatte sie demnächst ausgeschöpft, und was danach aus ihr werden sollte, stand in den Sternen. Im letzten Jahr hatte ihr Onkel angeboten, sie Bekannten an der Universität in London zu empfehlen. In der Hauptstadt strebten Frauen inzwischen an sämtliche Fakultäten und erkämpften sich das Recht auf Abschlüsse. Gewiss hätten sich ihr dort Türen eröffnet, die ihr hier verschlossen blieben, und Selene hatte begeistert zugesagt.
    Im letzten Augenblick war der schöne Plan zerplatzt. Ihr Vater hatte, wie er es nannte, ein Machtwort eingelegt und ihr die Reise verboten.
    »Ich kann dir nicht gestatten, in dieser Sache nur an dich zu denken«, hatte er gesagt. »Du weißt, wenn dir etwas zustieße, würde deine Mutter es nicht überleben.«
    In solchen Augenblicken hasste Selene ihren Vater, der einfach zu alt war, um zu verstehen, was in ihr vorging. Warum konnte sie ihn nicht gegen Annettes Vater tauschen? Annettes Liebe galt der aufstrebenden Wissenschaft der Archäologie. Ihr Vater ermutigte sie, in diesem Fach ein Studium aufzunehmen, und war mit ihr in die Türkei gereist, um ihr die Grabungsstätten des sagenumwobenen Troja zu zeigen.
    Unwillkürlich wandte sie den Blick nach der Freundin. Annette trug ein dunkelgrünes Kleid, das nach neuestem Schnitt ihre schlanke Silhouette umschmiegte, und ließ ihr schwarzes Haar gegen jede Mode offen über ihren Rücken fallen. Sie war erst achtzehn, aber an Ausstrahlung nahm sie es mit jeder erfahrenen Frau auf. Wenn sie den Fremden mit dem Seesack kennenlernen wollte, würde sie keine Schwierigkeiten haben – Annette war mit Abstand das schönste Mädchen, das an der Küste des Solent ihre Hüften schwang.
    Als hätte der Mann ihre Gedanken gelesen, machte er kehrt, dass der Seesack schwappte, und kam auf sie zu. »Scheint unser Glückstag zu sein«, bemerkte Annette.
    Der Mann hob die Hand und winkte. »Entschuldigen Sie, meine Damen. Können Sie vielleicht einem tumben Touristen, der sich verlaufen hat, behilflich sein?«
    »Tumbe Touristen haben hier keinen Zugang«, konterte Annette, gönnte ihm jedoch das hinreißend spöttische Lächeln, das sie von ihrem Vater geerbt hatte. »Und da Sie hier herumspazieren, gehe ich davon aus, dass Sie der reine

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