Die Mondrose
die mit ihrem Rutenbesen täglich ein Grandhotel ausfegte, und von ihren Großeltern, einer Frau wie aus Spannstahl und einem Männchen wie aus Porzellan. »Ich glaube, wir kommen ins Geschäft«, sagte Lenz. »Ihre Familie hört sich unwiderstehlich an.«
Nach vier Tagen bat er sie, ihn Thomas zu nennen. Und am nächsten Tag, einem Freitag, teilte er ihr mit, er werde morgen seinen letzten Vortrag halten und am Sonntag abreisen. Jäh war Selene zumute, als hätte man ihr eine Tür vor der Nase zugeschlagen. Was immer dahinter geschah, fand ohne sie statt. »Glück muss man haben«, murmelte sie und war wütend auf sich, weil ihre Bitterkeit nicht zu überhören war. »Dann also gute Reise.«
Eine kleine Ewigkeit lang starrte sie auf die Tischplatte, die Schlieren des Holzes, die ineinanderliefen und nirgendwohin führten. Dann schreckte sie seine Stimme aus der Trance. »He, Titanin? Warum kommst du eigentlich nicht mit?«
»Ich?«, platzte sie heraus. »Nach Belfast? Zur Titanic?«
»Wohin denn sonst? Gibt es etwa einen anderen Ort, wo es sich im Mai des Jahres 1910 zu sein lohnt?«
»Aber ich bin kein Ingenieur«, stammelte Selene.
»Als Ingenieur könnte ich eine Frau kaum unterbringen«, bekannte Thomas. »Nicht einmal, wenn sie eine göttliche Mondrose namens Selene wäre. Aber Hilfsarbeiter werden ständig gebraucht. Es ist schlecht bezahlt, und du kommst in keinem Mount Othrys unter, aber du könntest eine Menge lernen. Ich habe mich als Student dauernd als Arbeiter verdingt – und Harland & Wolff ist schließlich nicht irgendeine Werft.«
»Allerdings nicht.«
»Dann kommst du also mit?«
Vor Selenes geistigem Auge türmten sich Hindernisse. Sie hatte kein Geld für die Überfahrt. Ihre Mutter würde in Verzweiflung ausbrechen. Ihr Vater würde es ihr schlankweg verbieten. Es war nicht möglich, und es würde nie möglich sein. »Ja«, sagte sie zu Thomas Lenz, »ich komme mit zur Titanic.« Möglich oder nicht, im Mai des Jahres 1910 gab es für Selene Ternan keinen anderen Ort, an dem zu sein es sich lohnte.
Mildred hatte sich oft gesagt, sie müsse damit rechnen. Ihr Mann war fünfundsiebzig Jahre alt, er hatte ein Leben lang Raubbau mit seiner Gesundheit getrieben, und wenn jemand ihn mahnte, er müsse mit der Arbeit aufhören, starrte er ihn an, als wüsste er nicht, wovon die Rede sei. Vermutlich wusste er es wirklich nicht. Seine Arbeit war sein Leben, er besaß kein anderes. Seit sein Neffe die Finanzierung der Krankenstation im Arbeitshaus durchgesetzt hatte, arbeitete er auch dort noch etliche Stunden. Eines Tages würden sie ihn ihr auf einer Bahre bringen und sagen: »Es tut uns leid, Mrs Weaver. Sein Herz hatte keine Kraft mehr.«
Und dann, Hyperion? Dann haben wir einander nie verziehen.
Als sie kamen, geschah, was Mildred bald fünfzig Jahre lang verhindert hatte. Die Träger begingen einen Fehler, und ihr Privatleben wurde statt in ihr Haus in ihr Hotel geschleppt. In ihr Wolkenschloss, das seine Besucher vor allen unappetitlichen Aspekten des Lebens abschirmte. Es war nie mehr voll ausgebucht, dazu war es zu teuer, und es hatte noch immer keine Dachterrasse. Aber wer es sich leistete, wusste, dass er bekam, was kein anderer haben konnte. Mount Othrys. Das Paradies, das in einer Welt, die sich in schwindelerregendem Tempo wandelte, unverändert stand. In ihr Hotel, in dem die Sommerfrische eines verlorenen Jahrhunderts konserviert war, passte keine Totenbahre. Mildred schrie die Träger an. Dann erkannte sie Ackroyd, der hinter der Trage ging. »Tun Sie mir eine Liebe, Will, zeigen Sie diesen Idioten, wo sie ihn hinzubringen haben«, beschwor sie ihn. »Ich komme nach, wenn ich meine Gäste beruhigt habe.«
Gewiss riss nun wieder alle Welt das Maul auf, weil Mildred Weaver ein Herz aus Stein hatte und um ihren Mann nicht weinte. Sie eilte die Treppe hinauf, deren Marmor wie immer frisch poliert glänzte. Wie soll ich denn weinen, Hyperion? Schreien müsste ich, weil jetzt alles verloren ist und ich die Last mit in den Tod nehmen muss. Würde einer von all den Maulaufreißern mein Geschrei ertragen? Zu ihrer Erleichterung hatte kein Gast etwas mitbekommen. Mildred wies Georgia an, den Empfang zu übernehmen und für einen störungsfreien Abend zu sorgen. Dass ihr Vater gestorben war, sagte sie ihr nicht.
Hyperion war nicht gestorben. Er hatte erlitten, was Ackroyd als Schwächeanfall beschrieb, und lag in tiefer Bewusstlosigkeit. »Das Herz hat keine Kraft mehr. Ausgerechnet
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