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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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Tor, den Sie uns geben, nicht sind. Wie wäre es also mit einer Vorstellung?«
    Geschlagen lächelte der Mann, wobei er ein herrliches Gebiss entblößte. Selene fielen solche Dinge auf. Annette behauptete, sie prüfe Männer wie Maschinen auf ihre Funktionsfähigkeit. »Ihr Wunsch sei mir Befehl. Thomas Lenz ist mein Name, Ingenieur bei Harland & Wolff. Ich bin sozusagen Europareisender in Sachen Schiffsbau und auf der Suche nach einem Studenten.« Er war kein Engländer. Auch wenn er seinen Namen englisch aussprach und sich fehlerlos ausdrückte, war ein Akzent nicht zu überhören. Ein wenig, als würde er die Worte ordentlich in Silben zerteilen. Hübsch, fand Selene.
    »Was für einen Studenten suchen Sie denn?«, fragte Annette nach. »Einen Ingenieur? Dann sind Sie bei uns an der richtigen Adresse, wir sind sozusagen das Who is Who der ingenieurswissenschaftlichen Fakultät.«
    »Dann ist die ingenieurswissenschaftliche Fakultät zu beneiden.« Der Mann, der Thomas Lenz hieß, lächelte noch immer. »Ich soll in einer halben Stunde einen Vortrag über meine Arbeit für Harland & Wolff halten und wurde hergeschickt, um einen Mr Ternan abzuholen, den dieser Vortrag interessieren könnte.«
    »Soso«, versetzte Annette amüsiert. »Mit einem Mr Ternan können wir leider nicht dienen. Darf ich Ihnen ersatzweise Miss Ternan anbieten?« Mit theatralischer Geste wies sie auf Selene. »Gestatten, Selene Ternan, hoffnungsvoller Hundsstern am Schiffsbauerhimmel – ich wette, Sie dürfen sie auch Sirius nennen.«
    Thomas Lenz wandte sich ihr zu. Sein Gesicht war die Verblüffung pur. »Sie sind Selen Ternan?«
    »Selene«, verbesserte sie. »Mondgöttin der Titanen, und wie alle Menschen trage auch ich an meinem Namen keine Schuld.«
    »Sagen Sie bloß, er gefällt Ihnen nicht? Ich finde ihn göttlich.«
    »Das ist der Sinn der Sache. Aber sein Kind nach der Göttin eines untergegangenen Geschlechts zu benennen hat etwas Morbides, oder? In meiner Familie gehört Morbidität zum guten Ton. Das Hotel meiner Großeltern heißt Mount Othrys.«
    »Oho.« Er pfiff durch die prächtigen Zähne. »Das ist in der Tat ein bisschen, als würde man das Schicksal herausfordern. Zogen die dem Untergang geweihten Götter nicht vom Mount Othrys aus in ihre letzte Schlacht? Ich fürchte, ich muss mich selbst zu einer Schwäche für diesen titanischen Größenwahn bekennen.«
    Erst jetzt, als er titanisch aussprach, fiel Selene ein, was er vorhin erwähnt hatte. »Haben Sie gesagt, Sie kommen von Harland & Wolff? Soll das heißen, dass Sie …« Sie verstummte, und ihr Herz vollführte einen kleinen Sprung.
    »Genau das heißt es.« Er grinste, als hätte er ihr ein Geschenk überreicht. »Ich bin hier, um zu Ihnen über die Konstruktion unserer Luxuslinienschiffe für White Star zu sprechen – der formidablen Schwestern RMS Olympic und RMS Titanic.«
    Selene gönnte sich einen Augenblick atemloser Andacht. Selbst altgediente Konstrukteure in den Docks sprachen den Namen des zweiten Schwesterschiffs nur unter ehrfürchtigem Raunen aus. Kaum mehr als ein Jahr war vergangen, seit die Titanic in der Werft von Harland & Wolff auf Kiel gelegt worden war, und doch war sie bereits von Legenden umwoben. Sie sollte das größte Schiff sein, das je gebaut worden war, versehen mit einem mysteriösen System, das sie unsinkbar machte. Ein Sieg der Menschheit über die unbeugsamste der Naturgewalten. Dass der Mann, der vor ihr stand, an diesem Wunderwerk beteiligt war, dass er Hand an Titanics Spanten gelegt hatte, erfüllte Selene mit Neid.
    Thomas Lenz hob die Brauen. »Kommen Sie, Titanin? Mein Vortrag kann leider nicht warten.«
    Sie hätte ihm gern gesagt, an welchen Hut er sich seinen Vortrag stecken konnte. Aber er trug ja gar keinen. Und letzten Endes siegte wie üblich ihre brennende Neugier auf ein Schiff.

    Thomas Lenz blieb eine Woche in Portsmouth und hielt täglich Vorträge an der Fakultät. Schnell wurde er vom kleinen Konferenzraum in den großen Hörsaal umquartiert, und selbst der war noch so überlaufen, dass die Studenten sich bis auf den Gang hinaus drängten. Lenz erzählte quirlig wie eine Schiffsschraube und anschaulich wie ein Blick vom Masttopp, doch es war sein Thema, dem niemand widerstehen konnte. Die Titanic löste womöglich größere Wellen der Begeisterung aus als die junge Luftfahrt. Sie war alles, was England mit Stolz erfüllte – mächtig und unbesiegbar, die perfekte Verschmelzung von modernster Technik und

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