Die Mondrose
schwatzten, hatten selbst keines, vermutlich, weil es dieses Phantom von Mitleid überhaupt nicht gab. Dachte der Mann, der ihr diese Briefe schrieb, vielleicht je an sie, deren Kämpfe umsonst gewesen wären, wenn sie die beiden nicht länger schützen konnte?
»Wenn Du mir nicht endlich gewährst, wonach ich mich seit zwanzig Jahren sehne, muss ich es erzwingen«, endete er. »Und glaube nur nicht, dazu sei ich nicht fähig. Ich kann den Mund aufmachen, Mildred. Ich kann mit einem Schlag Dein Titanenreich in den Untergang senden, und ich werde nicht sterben, ohne meine Tochter und mein Enkelkind zu kennen. Sei Dir dessen gewiss. Ich werde ohne das nicht sterben.«
Kapitel 50
Belfast und Portsmouth, Herbst 1910
W enn es etwas gab, das Thomas im Norden von Irland schwer ertrug, war es der ewige Regen. Wie es aussah, wenn ein Strahl gleißenden Sonnenlichts unverhofft durch die schwarze Decke der Wolken brach, hatte er beinahe vergessen. Das unentwegte Geprassel aufs Dach der Werkhalle dröhnte ihm noch in den Ohren, als er seine Wohnung betrat, und das endlose Grau schlug ihm aufs Gemüt. Es machte ihn grüblerisch, und eben das wollte er nicht sein. Er hatte sich hundertmal gesagt, er müsse nicht nach Portsmouth zurück, er könne die Vergangenheit ruhen lassen und sein Leben nach vorn gewandt weiterleben. Warum um alles in der Welt hatte er dennoch an Annette Weaver geschrieben?
Ihre Antwort, die seine Wirtin ihm in die Hand gedrückt hatte, lag vor ihm auf dem Tisch. Sich vor dem Öffnen eines Briefes zu fürchten war albern, erst recht, wenn man selbst um diesen Brief gebeten hatte. Thomas schob einen Finger in die Lasche des Umschlags und riss ihn auf.
»Verehrter Mr Lenz«, las er und glaubte den leicht spöttischen Ton der jungen Frau zu hören und den Schalk in ihren Augen blitzen zu sehen. »Wie nett, nach all den Monaten von Ihnen zu hören. Danke der Nachfrage, ich und die Meinen, wie Sie sich ausdrücken, sind bei guter Gesundheit. Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie mit den Meinen in zweiter Linie meinen Vater, in erster aber meine Cousine Selene meinen?
Mr Lenz, Sie enttäuschen mich. Sie erschienen mir so gar nicht wie ein Mann, der Feigheit vor dem Feind beweist, und jetzt wagen Sie nicht, Selene selbst zu schreiben? Genau das muss ich Ihnen aber raten, denn was nützt es Ihnen, wenn ich Ihnen auf Ihre Frage ein paar beliebige Antworten gebe – die eine, die Sie gern hätten, ist ja doch nicht darunter. Und jetzt sagen Sie nur nicht, ich hätte nicht recht.
Also schön, hier haben Sie Ihre beliebigen Antworten: Ja, auch Selene erfreut sich guter Gesundheit, sie ist überhaupt von robuster Natur und lässt sich von keinem läppischen Schnupfen unterkriegen. Was ihren Großvater betrifft, stehen die Dinge leider weniger gut, doch immerhin ist der alte Herr noch unter uns. Oder ist er das nicht? Er atmet und nimmt gelegentlich Nahrung zu sich, doch ansonsten vegetiert er vor sich hin, ohne zu erkennen, was um ihn geschieht. Ist es nicht herzzerreißend, dass ein so wacher, kluger Mensch so ein Ende nehmen muss, dass ein Arzt sich, wenn es zum Letzten kommt, nicht helfen kann? Mein Vater, der ihn wie keinen anderen Mann bewundert, hat gesagt, er hält die Hände verkrampft, als könnte er etwas im Leben nicht loslassen. Wer weiß, was dieses Etwas ist und wann es ihm erlaubt zu gehen.
Hat Ihnen Selene eigentlich erzählt, wie es zu dem Anfall kam? Sein Assistent, Dr. Ackroyd, hat ihm von einer Meldung berichtet, die telegraphiert worden war. Auf der anderen Seite der Welt, in Mexiko-Stadt, war ein Mann am Fleckfieber gestorben, der sich vorsätzlich damit infiziert hatte, um den Erreger nachzuweisen. Fleckfieber wird durch eine Laus, die in Kleidern sitzt, übertragen, und jetzt, da wir dank des Opfers dieses Mannes davon wissen, werden wir Tausende von Ansteckungen verhindern können. Dr. Ackroyd war sicher, Hyperion werde sich darüber freuen, weil seine Mutter am Fleckfieber gestorben ist. Vielleicht hat er sich ja gefreut, vielleicht war die Freude für sein müdes Herz zu wild. Er stürzte nieder und verfiel in den Zustand, in dem er sich noch immer befindet. Das alles geschah am Tag, bevor der König starb, und dass wir jetzt einen neuen König haben, weiß er nicht, aber was für eine Rolle spielt das schon?
Finden Sie mich schwatzhaft? Beklagen Sie sich nicht, Sie hätten schließlich Selene fragen können, die eine Meisterin der Verknappung ist. Zurück zu dem, was Sie wissen
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