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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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wollten. Dafür, dass Selene hierbleibt, um eine Stunde pro Tag am Bett ihres Großvaters zu sitzen, besteht aus meiner Sicht kein Grund. An der Universität bekommt sie nichts Neues mehr zu hören, und ihre Sirius ist im August vom Stapel gelaufen. Sie langweilt sich. Und für Selene kommt Langeweile dem letzten Kreis der Hölle gleich. Wenn es Ihnen also ernst ist mit Ihrer Beteuerung, Sie hätten ein schlechtes Gewissen und würden Selene gern helfen, wäre es eine gute Idee, sie noch einmal einzuladen. Wie ich meine Cousine kenne, ist sie nämlich überzeugt, es sich auf immer mit Ihnen verdorben zu haben. Selbst wenn sie es bereut, nicht mit Ihnen gefahren zu sein – von sich aus wird sie sich nicht noch einmal an Sie wenden.
    Habe ich mich damit nicht als selbstlose, beflissene Beraterin erwiesen? Wenn ja, bedanken Sie sich und rechnen Sie mir vor allem an, dass ich Ihnen nicht krummnehme, wie unverblümt Sie Selene mir vorziehen. Es sei Ihnen verziehen, wenn Sie es fertigbringen, die Gute nach Belfast zu schaffen. Mein Vater lässt grüßen und ausrichten, er ist Ihnen gern behilflich, auch wenn er es sich mit Selenes Mutter verdirbt.
    Was nun Ihre letzte Frage betrifft, so mutet sie allerdings etwas sonderlich an. Ob ich einen Victor März kenne? Mein lieber Mr Lenz, Victor März oder March kennt in Portsmouth jedes Kind, weil er angeblich mit seinen Billighotels das Stadtbild verschandelt und schon im Automobil herumkurvte, als man noch einen Läufer dafür brauchte, der mit roter Fahne vorneweg lief. Möglicherweise kenne ich ihn sogar besser als die meisten Kinder. Er ist mein Großvater, wenn auch nicht der richtige. Warum Sie das aber wissen wollen, müssen Sie mir gelegentlich erklären.
    Bleiben Sie wohlauf, grüßen Sie RMS Titanic, von der man ständig neue Wunderdinge hört, und lassen Sie von sich hören. Es grüßt Sie nicht ergebenst, doch recht freundlich, Ihre Annette Alexandrina Weaver.«

    Thomas starrte auf den Brief, als seine Wirtin an die Tür klopfte, um ihm mit mürrischer Miene eine Abendmahlzeit aus Kutteln und zerkochten Kartoffeln zu servieren. Er stocherte darin, weil er essen musste, aber Appetit machte ihm das lieblos bereitete Gericht beileibe nicht. Und der Mangel an Gesellschaft erst recht nicht. So ungern er es sich eingestand, er fühlte sich einsam und hatte die möblierten Behausungen, in denen man wie ein ungebetener Gast umherstrich, satt. Hatte er im Grunde je anders gewohnt? Hatte es je ein Haus gegeben, unter dessen Bewohnern er ganz und gar willkommen war?
    Was ist, macht dich der Regen zum Klageweib?, versuchte er mit etwas Spott das Selbstmitleid zu vertreiben. Aber wenn kein Gegenüber da war, der einem den Kopf zurechtsetzte, schlich es sich immer wieder ein. Vielleicht, um ihm Einhalt zu gebieten, zog er schließlich den Briefblock zu sich und begann zu schreiben. Oder weil jeder Mensch, selbst einer, der von Schiff zu Schiff zog, wissen wollte, in welchem Hafen er seinen Anker gelichtet hatte.

    »Setz dich, Selene. Du weißt, weshalb ich dich hergebeten habe?« Ihr Vater wies auf den gepolsterten Stuhl, den er vor seinen Schreibtisch geschoben hatte. Er war ein entsetzlich altmodischer Mensch, aber immerhin ließ er sie nicht wie ein Schulmädchen stehen, während er hinter dem Schreibtisch thronte. »Dein Onkel hat mit mir gesprochen.«
    Sogleich meldete sich Selenes Gewissen. Sie hätte selbst um ihre Sache kämpfen müssen, nicht den Onkel vorschieben.
    »Dein Onkel hat auch mit deiner Mutter gesprochen. Besondere Rücksicht hat er dabei nicht walten lassen – deine Mutter sitzt im Wintergarten und weint.«
    Selene unterdrückte ein Stöhnen. »Es tut mir leid«, murmelte sie, was ebenso sinnlos wie gelogen war.
    »Und wie leid tut es dir?« Ihr Vater schob seine Brille die Nase hinunter und musterte sie über die Ränder hinweg. »So leid, dass du deiner Mutter zuliebe auf dein Vergnügen verzichten würdest? Wohl kaum, denn sonst hättest du es nicht wieder versucht, nachdem wir bereits klargestellt hatten, dass eine Reise für dich nicht in Frage kommt.«
    »Es geht doch nicht um mein Vergnügen, Vater!« Selene sprang auf. »Ich kann nicht einfach hier herumhocken wie die Königin von Saba und mich nudeln lassen, bis ich mich rollend fortbewege. Ich brauche etwas zu tun.«
    »Nun, wenn dir derart der Sinn nach Beschäftigung steht, hätte ich nichts dagegen, dich in die Grundlagen des Hotelwesens einzuweisen. Auch deine Tante Georgia hat derlei

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