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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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verrückt sein. »Und du glaubst, ich kaufe die Katze im Sack? Ich habe noch immer keine Ahnung, wer du bist, Thomas.«
    »Doch, das hast du.« Er küsste sie. »Ich bin der Mann, der dich heiraten will. Dass du lieber Schiffe als Babys bemuttern willst, hat mir dein Onkel bereits mit der Pistole auf der Brust erklärt, aber ich bin ein gelassener Mensch. Solange du nicht als Suffragette nach London gehst und hungerstreikend im Gefängnis landest, ist mir alles recht.«
    »Du hast mit meinem Onkel gesprochen! Du warst in Portsmouth?«
    »Ich hatte dort zu tun«, murmelte er.
    »Und mein Onkel hat Geheimnisse mit dir?«
    »So würde ich es nicht bezeichnen«, erwiderte Thomas. »Er sagt nur nichts, wenn man ihn nicht fragt.«
    Dass er ihren Onkel besser zu kennen schien als sie, machte Selene wütend, auch wenn sie daran nicht schuldlos war. Wieder nahm sie sich vor, ihm zu schreiben, doch dann kam die Weihnachtsfeier, die Harland & Wolff für die Arbeiter der Titanic gab, und sie vergaß es erneut.
    Die Direktion hatte sich nicht lumpen lassen. Vor dem Bassin war ein Büfett aufgebaut, es gab Bier und Stew, so viel jeder wollte, und eine Kapelle spielte Weihnachtslieder. Die Arbeiter, die Selene nur im groben Drillich kannte, trugen ihr bestes Zeug – zu knappe Anzüge, gestärkte und geflickte Hemden, Hosen, auf denen Spuren des Bügeleisens glänzten. Harry hatte sich sein Haar mit Wasser an den Kopf gekämmt und trug einen altmodisch geschnittenen Rock. »Ich wollte, dass du dich mit mir sehen lassen kannst«, bemerkte er verlegen. Sie drückte seinen Arm.
    Jeder, auch Selene, bekam einen Weihnachtskorb, der eine armdicke Blutwurst und eine Halbliterflasche Whisky enthielt. Den Höhepunkt der Feier bildete der Besuch von Bruce Ismay, dem Geschäftsführer der White Star Line, der sich bei den Arbeitern für ihren Einsatz bedankte. Durch sie sei ein beispielloser Sieg moderner Technik möglich und ein Traum der Menschheit Wirklichkeit geworden. Nur noch sechs knappe Wochen trennten RMS Titanic von ihrer Fertigstellung. »Und dann ist sie bereit, sich der Welt zu beweisen. Ihre Jungfernfahrt ist für den 12. April anberaumt, wenn sie im Hafen von Southampton mit Ziel New York ihren Anker lichten wird.«
    Southampton! Das bedeutete, dass Selene hinfahren und dabei sein konnte, wenn die Titanic Europa verließ. Meine Titanic. Der Gedanke versetzte ihr einen Stich. In der Verwirrung des vergangenen Jahres war das Schiff die Konstante gewesen, ihr Halt und Ziel. Dass sich ihre Wege jetzt trennten, erschien grotesk. Selene wollte Schiffe bauen, solange sie denken konnte, aber außer auf Fähren zur Isle of Wight und nach Irland war sie noch nie auf einem Schiff gewesen.
    Bruce Ismay, der den Arbeitern zugeprostet hatte, fuhr in seiner Rede fort. Als Anerkennung für die Beschäftigten habe die White Star Line sich ein besonderes Geschenk ausgedacht. Zwei der am Bau beteiligten Arbeiter, die durch das Los ermittelt würden, erhielten eine Passage zweiter Klasse für die Jungfernfahrt der Titanic. »Sie werden auf dem größten und luxuriösesten Schiff der Weltgeschichte nach New York reisen – und natürlich bringt unsere Titanic Sie auch heil wieder zurück. Wozu ist sie schließlich unsinkbar?« Er lachte und winkte eine Dame in White-Star-Line-Uniform heran, die einen Champagnerkübel voller Lose trug. »Lassen Sie mich nun die Namen der Gewinner verlesen!«, rief er und zupfte der Dame zwei Lose aus der Hand. »Bei den beneidenswerten Glückspilzen handelt es sich um die Kollegen Francis White und Harry Matthew!«

Kapitel 52
    Portsmouth und London, Februar 1912
    S obald Annette von der Leiter in den Zubringer sprang, sah sie ihren Vater bei den Wartenden am Kai stehen. Vom Land waren sie noch zu weit entfernt, um Gesichter auszumachen, und nach dem klaren Licht der Ebene um Teotihuacán erschien die heimatliche Küste ihr verhangener denn je, doch ihren Vater erkannte sie an der Art, wie er stand, kerzengerade und einen Schritt weit von der Menschenmenge entfernt.
    Kaum erreichten sie einander, war es, als wäre kein Jahr, sondern höchstens ein Tag seit ihrem Abschied vergangen. Nervös trat ihr Vater von einem Fuß auf den anderen. Erleichert entdeckte er den Gepäckträger, der ihren Überseekoffer auf seinem Karren hatte, sprang hinzu und wuchtete das schwere Stück auf die Planken. »Bravo«, bemerkte Annette amüsiert. »Was für eine Großtat – und so sinnvoll. Dummerweise werden wir uns einen neuen

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