Die Mondrose
Recht auf dieses endgültige Wissen? Du hattest ein Kuckuckskind im Nest – und zwei Kinder von einer Mörderin.
Einen letzten Blick warf er zurück auf die Gräber. Er würde nicht mehr kommen, es tat seinen Knochen nicht gut, und seine Knochen brauchte er noch. Wenn er dereinst dort unten lag, dann nicht als Versager, sondern als Sieger. Seinem Sohn würde die Spucke im Hals steckenbleiben.
Zumute war ihr, als hätte sie vor Schmerz in der Nacht kein Auge zugetan. In ihrer Kehle loderte Feuer, sobald sie versuchte zu schlucken. Aus den Lungen schoss ihr bei jedem flachen, ängstlichen Atemzug eine Klinge durch den Rumpf. Ihr Arm, den die Wärterin verbogen hatte, lag geschwollen und steif an ihrer Seite, als würde er nicht ihr gehören. Das war das Schlimmste. Dass sie eine Frau dafür gewannen, eine andere Frau zu quälen, bis sie nicht mehr als ein würdeloses Häuflein Schmerz war.
Sie musste aber doch geschlafen haben, denn sie brauchte Zeit, um sich zu orientieren, sich klarzuwerden, dass sie in ihrem eigenen Zimmer lag, in ihrem weichen Bett, unter sauberen Decken. Es war dunkel im Raum, weil die Fensterläden geschlossen waren, doch durch die Ritzen im Holz schlich sich ein wenig Licht. Lydia versuchte den Kopf zu heben, bereute den Versuch jedoch, sobald der Schmerz ihr den Atem raubte.
Eine Weile dauerte es, bis sie in der Lage war, wieder Luft zu holen und die verletzten Lungen mit Sauerstoff zu füllen. Mit dem Atem kam die Erkenntnis: Ich lebe noch. Ich bin nicht daran gestorben. Wie sehr man am Leben hing, an seinem bisschen Leben in einem Zimmer in Whitechapel, war unbegreiflich. Lydia hatte ihre eigenen Schreie der Todesangst noch im Ohr, und vermutlich würden sie dort bis an ihr Lebensende bleiben.
Sie war in der Downing Street verhaftet worden, wo eine Hundertschaft von Frauen versucht hatte, den Konvoi des Premierministers aufzuhalten, jenem Asquith, der im letzten Moment die Gesetzesvorlage zum eingeschränkten Frauenwahlrecht zurückgezogen hatte. Sie waren mit Knüppeln bewaffnet gewesen, es waren Steine geflogen, Glas war zu Bruch gegangen und ein Polizist ging verletzt zu Boden. »Darüber, dass ihr euch strafbar macht, müsst ihr euch im Klaren sein«, hatte Nora ihr und Rebecca gesagt. »Ihr steht nicht mit ein paar Flugblättern vor dem Kaufhaus Harrods. Ihr greift an.«
Rebecca war entkommen. Lydia war über einen Gestürzten gestolpert und zwei Beamten in die Arme gefallen. Einer der Beamten hatte ihr ins Gesicht gestarrt und gerufen: »Mein Gott, sieh dir die an – ein altes Weib.« Dann hatte er sie geohrfeigt. Lydia, die ohnehin sicher war, nie wieder essen zu können, drehte sich bei der Erinnerung der Magen um.
Das Gefängnis Holloway glich einer Burg, von der Außenwelt abgeriegelt, damit verborgen blieb, was darin vorging. Sie wurden in eine Zelle ohne Abort gepfercht, sie wurden verhört, geschlagen, angebrüllt. Das alles aber, selbst die Angst, war erst der Auftakt. Am zweiten Tag fielen die zwölf verhafteten Frauen in den Hungerstreik. Zu kämpfen würde helfen, hatte Lydia gedacht, es würde Hoffnung geben. Hunger aber war Kampf gegen den eigenen Körper, bedeutete Schwächung der Kräfte, bis man kaum noch gehen konnte und schließlich liegen blieb. Eine Frau starb. Sie lag am Morgen neben Lydia auf dem Zellenboden, kälter als kalt. Nachdem ein Wärter ihre Leiche fortgeschleift hatte, wurde beschlossen, die Überlebenden zwangszuernähren.
Ein Mann in Uniform und eine Frau im grauen Kleid hatten Lydia abgeholt. Der Mann hatte sie in einem fensterlosen Raum auf einen Schemel gedrückt, und die Frau hatte ihr die Arme hinter die Lehne gezerrt. Ein weiterer Mann, der einen Kittel trug, um seine Kleider vor Verschmutzung zu schützen, zeigte ihr das Rohr, ehe der erste Mann ihr die Klammern ansetzte und ihre Kiefer auseinanderzwang. Als das Rohr durch ihre Kehle schnitt, wurde ihr vor Schmerz schwarz vor Augen, aber keine Ohnmacht folgte, und sie konnte nicht einmal schreien. Dass bei einer Kameradin statt der Speiseröhre die Luftröhre getroffen worden war und dass der Nahrungsbrei sie erstickt hatte, erfuhr sie zwei Tage später.
Noch dreimal wurde ihr auf solche Weise Nahrung eingezwungen. Zwischendurch warfen die Beamten sie zu Boden und hielten ihr die Nase zu, bis sie nicht anders konnte, als den Mund zu öffnen. Sofort wurde ihr ein Schwall Speisebrei in den Mund gespritzt, und der Mann presste ihr die Kiefer aufeinander. Dass ihre Lippen aufplatzten,
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