Die Mondrose
Träger suchen müssen, aber du hast immerhin bewiesen, was für ein Gigant du bist.«
Verlegen verbiss er sich ein Grinsen. »Was ist, willst du deinen närrischen alten Vater nicht umarmen?«
»Das kommt darauf an, ob mein närrischer alter Vater das will.«
Er sandte ihr einen dankbaren Blick und öffnete die Arme. Sie warf sich hinein und hatte das Gefühl, zu Hause zu sein.
Portsmouth war noch immer Portsmouth, wenn auch ihr Vater ihr stolz wie ein Pfau hinter den Hafenanlagen eine Neuerung präsentierte, ein Automobil, einen Zweisitzer, in der Farbe dunklen Weins. »Es ist ein Ace «, erklärte er selig. »Der leichteste Vierzylinder, der derzeit zu haben ist. Gefällt er dir?«
Annette musste lachen. »Wirst du für derlei Spielzeug eigentlich irgendwann zu alt? Zumindest hättest du dir die Haare pomadisieren oder dir eine dieser feschen Mützen kaufen müssen.«
»Du findest also, ich mache mich zum Clown.«
Sie küsste ihn auf die Wange und stieg ein. »Tu nicht so, als würde dich das im mindesten kratzen.« Ihr Vater grinste und ließ den Wagen an.
Das Auto war nicht schneller als eine Kutsche, und unterwegs redeten sie ohne Punkt und Komma. Ihr Vater stellte Fragen, und Annette erzählte von der heiligen Stätte, die die Azteken »Ort, an dem man zum Gott wird« genannt hatten. Erst seit zehn Jahren fanden Ausgrabungen in der einst größten Stadt Amerikas statt, und der Entdeckerrausch, der Annette erfasst hatte, ließ ihre Worte sprudeln. »Deine Begeisterung steckt an«, sagte ihr Vater, als er das Auto vor ihrem Haus Planet Earth zum Stehen brachte. »Weißt du, dass ich mich manchmal frage, wie ein Fortschrittsverfechter wie ich zu einer Tochter mit einer solchen Liebe zur Vergangenheit kommt?«
»Ich glaube eben, dass wir keinen Schritt nach vorn machen können, ohne uns zu fragen, was für Schritte hinter uns liegen.«
»Und ich glaube, man sollte mir einen Orden verleihen, weil ich den klügsten Untertan dieses Königreichs gezeugt habe – auch wenn man der Klugheit noch immer kein Wahlrecht zugesteht.«
Flüchtig berührte sie seine Hand. »Manchmal glaube ich, dich quält das mehr als uns Frauen.«
»Nein.« Mit einem Schlag veränderten sich seine Züge, und Schweiß brach ihm aus. »In London herrscht Krieg, Annette. Sie schlagen Frauen, die um ein Menschenrecht kämpfen, auf offener Straße zusammen – Männer mit Knüppeln gegen Frauen ohne Waffen.«
»Ganz so ist es nicht, oder? Deine Frauen ohne Waffen zünden immerhin Bomben in Postkästen und werfen Steine in Schaufenster.«
»Du hast recht.« Er fuhr sich mit der Hand ins Haar und zerrte daran. »Als Naturwissenschaftler sollte man in der Lage sein, Objektivität zu bewahren, nicht wahr?«
»Du bist ja nicht nur Naturwissenschaftler, sondern auch ab und zu Mensch«, widersprach sie und zog ihm die Hand aus den Haaren. Zwischen den Fingern wehten schwarze und weiße Fäden. Viel mehr weiße als vor einem Jahr. »Geht es Tante Nora und ihrer Freundin gut?« Annette kannte die Tante nur von deren seltenen Besuchen in Portsmouth, aber sie wusste, dass ihr Vater mit inniger Liebe an ihr hing.
»Ich hoffe«, sagte er. »Zumindest ist Rebecca bisher nicht verhaftet worden. Weißt du, was sie in den Gefängnissen mit den Frauen tun, die weiterkämpfen und in den Hungerstreik treten?«
Annette schüttelte den Kopf.
»Sie zwingen sie zu essen, damit sie ihnen in der Haft nicht sterben und zu Märtyrern werden. Sie schieben ihnen Schläuche in den Hals und flößen ihnen Nahrung ein, wobei die Kehle regelrecht aufgepflügt wird. Meine Schwester würde das nicht überleben. Ich kann nicht fassen, dass derart mittelalterliche Foltern in einem Land, das Flugzeuge, Telefone und Fernheizwerke hat, erlaubt sind.« Das Gesicht des Vaters sah aus, als würde er selbst auf solche Weise gefoltert.
Sie ließ ihm Zeit. Dann tippte sie ihm behutsam auf den Arm. »Ich ginge übrigens ganz gern eine Zeitlang nach London«, sagte sie. »Einer der Archäologen hat mich eingeladen, ihm bei einem Projekt für das britische Museum zu assistieren. Was meinst du, könnte ich wohl bei Tante Nora wohnen?«
Es war ein Schuss ins Blaue, der ins Schwarze traf. Ihr Vater wurde bleich. »Darüber reden wir noch«, murmelte er hastig. »Nora und Rebecca sind Gesellschaft nicht gewöhnt, und es ist ja nicht so, dass wir uns keine Wohnung für dich leisten könnten.«
»Angeber.« Sie lächelte ihm zu. Was sie hatte sehen wollen, hatte sie gesehen. Es
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