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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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spürte sie nicht, so überwältigend war der Schmerz, als der Brei in ihre Lungen drang.
    Sie war sicher gewesen, sie müsse sterben. Mit den wunden, kranken Lungen hatte sie um ihr Leben gebrüllt. Es hatte wie ein Fiepen geklungen, ein verendendes Röcheln. Und doch musste irgendwer sie gehört haben, denn sie lag hier, in der Wohnung in Whitechapel, die sie mit Nora und Rebecca teilte, umgeben von Stille und Dunkelheit, gewärmt und beschützt.
    Wie sehr sie die Wohnung liebte, war ihr nie aufgefallen. Sie lag im dritten Stockwerk eines hundertjährigen Hauses, und der Lärm des Armenviertels wälzte sich so tief unter ihren Fenstern vorbei, dass er beinahe melodisch klang. Nora und Rebecca hatten sie hier aufgenommen, nachdem sie ihre Stellung als Hauslehrerin verloren hatte. Die Familie, die sie beschäftigte, fand sie nicht länger tragbar, und so musste sie ihr Zimmer räumen. Seither arbeitete sie für The Suffragette und jede andere Zeitung, die etwas von ihr druckte. Sie schrieb und schrieb, aber es brachte ihr kaum Geld, und ohne die Freundinnen wäre sie nicht durchgekommen. Rebecca, die ihr Studium hatte aufgeben müssen, verdiente als Standesbeamtin einen Hungerlohn, und Nora schuf in Heimarbeit Hüte – wahre Kunstwerke aus Federn, Früchten, Farben, Visionen, die hinter Noras bleicher Stirn kein Mensch vermutet hätte. Ab und an verkaufte sie einen. Von dem, was zusammenkam, lebten sie zu dritt. Ein karges Leben machte keiner von ihnen etwas aus.
    Und was bedeutete denn ein karges Leben? Wenn man Freundinnen hatte, wenn man in einem warmen Zimmer lag und weder gequält noch erniedrigt wurde – war das nicht Reichtum ohne Ende? Lähmende Schwäche überfiel sie und der Drang zu weinen. Der Mann, der sie geohrfeigt und ein altes Weib genannt hatte – er hatte recht. Sie war ein altes, zerbrochenes Weib. Vielleicht würde sie nie wieder in der Lage sein, hinunter zum Bäcker zu gehen, um ein Brot zu kaufen, ihr zerstörtes Gesicht vor den Menschen zu zeigen.
    Die Tür knarrte, und ein dünner Strahl Licht fiel aus dem Flur ins Zimmer. »Lydia?«, fragte Nora. In den Händen trug sie ein Tablett, auf dem nur ein Glas stand. Das war gut, denn den Anblick einer Mahlzeit hätte Lydia nicht ertragen, und vielleicht war Nora der einzige Mensch, der das verstand. »Bist du wach? Ich bringe dir Milch mit Honig. Auch wenn es dir schwerfällt zu trinken, es ist Balsam für deine arme Kehle.«
    Ohne auf eine Antwort zu warten, setzte sich Nora an ihr Bett und hob das Glas an ihre Lippen. Sie verschütteten die Hälfte, und zu schlucken war die Hölle, aber Nora hatte recht. Nach einer Weile wurde es besser. Lydia schloss die Augen. Auf einmal glaubte sie Singen und Zirpen zu hören, das Lied eines fernen Sommers, der Geschenke verheißen hatte, auch wenn sie sich beim nächsten Regen in Luft auflösten. Eine Hand hob ihr Kinn und träufelte Wein, der sämig und warm war, aus einem Zinnbecher zwischen ihre Lippen. Sie musste lachen, weil Wein ihr den Hals hinabrann und die Hand sie sorgfältig abtupfte. Als der Becher leer war, folgte weiche Schokolade, sie murmelte »Mehr«, und der Becher wurde noch einmal gefüllt.
    Lydia hörte sich stöhnen. Sie hatte den Mann in zwanzig Jahren nicht so deutlich vor sich gesehen, einen blutjungen Mann mit schwarzem Haar, das ihm ständig ins Gesicht fiel. Kräftige Schultermuskeln, die durch weißen Hemdstoff schimmerten. Warme Augen, halb gesenkte Lider, schlecht verhohlene Verletzlichkeit. Nora hob noch einmal das Glas, und Lydia schluckte mühsam die letzten Tropfen. »Dank dir«, krächzte sie.
    Nora schüttelte den Kopf. »Streng dich nicht an. Es wird lange dauern, bis du dich erholt hast. Mit dir reden muss ich trotzdem.«
    Es gelang ihr zu nicken, auch wenn sie nichts hören wollte.
    »Sie waren entschlossen, dich zu verurteilen«, sagte Nora. »Wegen dieses verletzten Polizisten. Rebecca meint, unter drei Jahren wärst du nicht davongekommen.«
    »Aber ich habe doch …«, begehrte Lydia auf, ehe ihr die Stimme versagte.
    Beruhigend legte Nora ihr die Hand auf die Lippen. »Wir wissen, dass du den Polizisten nicht geschlagen hast, und der gesamte Apparat wird es auch wissen. Aber das tut nichts zur Sache – eine von euch müssen sie dafür drankriegen.«
    Drei Jahre in Holloway. Und nach drei Wochen fühlte sie sich schon nicht mehr wie ein Mensch.
    »Wir wussten uns keinen Rat«, fuhr Nora fort. »Auch wenn etliche helfen wollten, hätten wir uns keinen Anwalt

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