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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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bestätigte ihre Vermutung. »In Ordnung, reden wir ein andermal darüber. Und jetzt lass uns nach drinnen gehen, ich brauche die größte Badewanne von ganz Hampshire.«
    »Die wird warten müssen.«
    »Warum? Sag bloß, Selene war schneller als ich und ist schon da?«
    Der Vater schüttelte den Kopf. »Selene hat ihre Fähre verpasst und kommt erst nächste Woche. Aber im Haus wartet trotzdem jemand auf dich – jemand, der behauptet, er könne keinesfalls warten, sondern müsse dich so schnell wie möglich sprechen.«
    »Und wer soll das sein? Der Großvater?«
    »Nein«, erwiderte ihr Vater und sandte ihr einen prüfenden Blick. »Thomas Lenz.«

    Er hatte sich angewöhnt, an jedem ersten Montag im Monat auf den Friedhof zu gehen. An Montagen blieben die Friedhöfe leer. Noch immer hätte es ihm widerstrebt, wenn jemand ihn, Hector Weaver, bei etwas so Sinnlosem, so Sentimentalem wie einer Wanderung zwischen Toten beobachtet hätte.
    Warum er ging, hätte er nicht zu sagen vermocht. Es tat gut, einen Termin zu haben, es war beinahe, als würde er einen Besuch machen. Es tat auch gut, sie alle dort unter aufgeschütteten Hügeln zu wissen, am Fuß der Steine, in die ihre Namen gemeißelt standen, und keiner von ihnen konnte ihm mehr etwas anhaben – Bernice Weaver, geborene Lewis, deren Leibesfülle tatsächlich in einen einzigen Sarg gepasst hatte, Henry Lewis, Port Admiral von Portsmouth, der vermutlich im Grab noch pikiert war, und Maria Lewis, geborene Cenci, deren rassiger Körper nicht anders als der einer hässlichen Vettel verrottete. Sie war nicht, wie die von Hector geschürten Gerüchte besagten, von der Clifton Suspension Bridge gesprungen, sondern umnachtet in ihrem Bett verreckt.
    Wer von ihnen würde als Erster hier unter den Kadavern enden – sein schwächlicher Bruder oder er, der immer der Stärkere gewesen war? Das Alter verwischte die Unterschiede. Selbst der Strahlendste war inzwischen verschrumpelt, klein und grau.
    Wie immer kaufte er bei der Blumenbinderin am Tor einen Strauß, mit dem er sich vor die Gräber stellte und sich ausmalte, wie die drei dort unten rumorten und spekulierten, wer die Gabe einheimsen würde. Sie hatten ja sonst keinen, der ihren schmucklosen Gräbern ein wenig Glanz verlieh. Die beiden Söhne der Lewis’ waren in Südafrika gefallen, und Bernices Sohn pflegte das Grab seiner Hure von Großmutter am anderen Ende des Friedhofs, und das seiner geisteskranken Frau, aber das seiner Mutter nicht.
    Bernices Sohn. Der Verräter, der die Seiten gewechselt und sich Hyperions Titanenvolk zugeschlagen hatte. Auf das Grab seines Vaters würde er eines Tages spucken. Hector ballte die Fäuste um die Stiele der Blumen. Den Strauß würde er heute mitnehmen, wie er es oft tat, wenn Wut ihn übermannte. Mochten die drei leer ausgehen für alles, was sie ihm angetan hatten – es war eines der letzten Vergnügen, das ihm blieb.
    Mit jäher Heftigkeit wünschte er sich, am Grab seines Sohnes zu stehen und ihm ebenso eins auszuwischen wie den drei Alten. Zwar war es ihm gelungen, das Leben des Sohnes zu zerstören, doch dass der Sohn dabei nicht zerbrochen war, raubte ihm den Triumph.
    Stattdessen sah es aus, als wäre der mächtige Hector Weaver der Zerbrochene. Seine Gasanstalt hatte den Todesstoß erhalten, als sein Sohn Portsmouth zu einer der ersten Städte mit eigenem Elektrizitätswerk gemacht hatte. Kurz darauf hatte die Stadt die Gasversorgung selbst übernommen. Die Ära Hector Weaver war zu Ende, zu Fall gebracht von seinem Fleisch und Blut, das ihn hätte ehren sollen, ihn ehren und lieben.
    Sein Haus war hoch verschuldet. Dass er es noch nicht verloren hatte, sein Mount Olymp, von dem aus er die Titanen von Mount Othrys hatte schlagen wollen, verdankte er den Briefen. Er war vorsichtig geworden, um seine letzte Einkommensquelle nicht zu gefährden. An Victor März schrieb er so gut wie nie, und von Mildred forderte er maßvolle Summen, die sie anstandslos zahlte. Wenn er an seinen einstigen Plan dachte, die Giganten März und Mildred gegeneinanderzuhetzen und Mount Othrys zu Fall zu bringen, musste er an sich halten, um nicht zu weinen. Und war ein Sturz aus solcher Höhe keine Tränen wert? Mildred Adams, die Kröte aus Whitechapel, hatte ihn besiegt. Indem sie die Tochter ihrer Schwester an die Ternans verscherbelt hatte, war ihr der Coup ihres Lebens geglückt. Andrew Ternan war in die Frau, die ihn nicht wollte, so blödsinnig verliebt, dass er lieber sein letztes

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