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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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erkannt, wer ihr Vater war, und hinter ihrer schmerzenden Stirn hämmerte Noras Stimme: Sie könnte deine Tochter sein.

Kapitel 53
    März
    S ie waren alle dort, wo sie immer zusammentrafen. In Mount Othrys. Auf ihrem Titanengipfel. Ihre Großmutter hatte eine unglaubliche Ausnahme gemacht und den großen Saal des Hotels für die Gäste der Vorsaison gesperrt. Er sollte an diesem Tag der Familie und dem Willkommensfest für Selene vorbehalten bleiben.
    Dabei war es nicht nur unnötig, sondern lachhaft, einen Saal, der hundert Menschen fasste, für die Feier einer Familie von acht zu nutzen, zumal eine – Annette – auch noch fehlte. Dass ihre Großmutter Dinge tat, die lachhaft waren, fiel Selene nicht zum ersten Mal auf. Aber zum ersten Mal machte es sie blind vor Wut.
    »Ich bitte dich, komm nach«, hatte ihre Mutter sie angefleht. »Der Großmutter bedeutet es so viel, und sie hat das am Kai doch nicht böse gemeint.«
    »Und wie hast du es gemeint?«, hatte Selene geschrien. »Du hast dich genauso benommen wie sie – nämlich völlig verrückt.«
    »Schrei deine Mutter nicht an«, mischte ihr Vater sich ein.
    Die Mutter war zu ihm geflohen und hatte sich an seinen Arm gehängt. »Bitte tu mir die Liebe«, bettelte sie die Tochter noch einmal an, ehe sie ging. »Ich sage der Großmutter, du siehst nur rasch deine Willkommenspost durch, ja?«
    Dass diese Post eine weitere Bombe enthielt und dass Selene deshalb in der Tat unterwegs nach Mount Othrys war, um die Bombe unter die verlorenen Gestalten im Saal zu werfen, hatte ihre Mutter nicht gewusst.
    Sie hatten am Kai der Fähre gestanden, um sie abzuholen, ihr kleines Empfangskomitee – die Mutter, die Großmutter, Onkel Horatio und Tante Georgia –, und Selene wollte vor Freude hüpfen, als sie sie entdeckte. Bis dahin hatte sie nicht bemerkt, wie sehr sie ihr gefehlt hatten. »Da sind sie!«, rief sie und zerrte Harry, der steif und eingeschüchtert an der Reling stand, am Arm. »Das ist meine Familie.« Für kurze Zeit war die Enttäuschung über Thomas vergessen, der ohne sie abgereist war, weil sie auf Harry hatte warten wollen. Ohnehin hatte Harry sich gesträubt, mit ihr zu fahren, aber Selene hatte darauf bestanden. »Natürlich kommst du mit! Du bist der beste Freund, den ich je hatte, und ohne dich hätte ich das Jahr nicht durchgehalten. Bis zur Jungfernfahrt bleibst du bei uns, du kannst im Victoriana oder in Mount Othrys wohnen. Zu dieser Jahreszeit stehen doch sowieso die meisten Zimmer leer.«
    Letzten Endes hatte Harry nachgegeben, wenn auch nur unter einer Bedingung – der wundervollsten Bedingung der Welt. Mochte Thomas tun, was er wollte, mochte er sie wieder einmal ohne Erklärung verletzen, Selene hatte eine Entschädigung. »Wenn ich mit dir komme, kommst du mit mir«, hatte Harry gesagt, und dann hatten sie ihr Geld zusammengelegt – all die unbenutzten Wechsel ihres Vaters und ein bisschen von Harry – und dem Kollegen Francis White seinen Losgewinn abgekauft. Sie, Selene Ternan, würde auf der Jungfernfahrt der Titanic dabei sein. Sie würde auf einem schwimmenden Weltwunder den Ozean überqueren.
    Ihrer Familie wollte sie es sagen, sobald sie von Bord gegangen war, und dann wollte sie ihnen Harry vorstellen, und alles würde großartig sein. Nur, dass Annette nicht mit zum Kai gekommen war, enttäuschte sie, doch sie wartete gewiss in Mount Othrys mit irgendeiner verrückten Überraschung. Wann Selene bemerkte, dass die glückselige Stimmung in ihr Gegenteil umgeschlagen war, wusste sie nicht. Vielleicht überfiel sie eine Ahnung, als sie Harry dreimal auffordern musste, die Rampe hinunterzugehen, und er weiter wie angewurzelt stehen blieb. »He, Harry, hat dir Portsmouth die Sprache verschlagen? Dann warte nur ab, bis du Mount Othrys siehst!« Harry erwiderte nichts, und erst als sie ihm einen Stoß verpasste, setzte er sich schleppend, wie benommen, in Gang.
    Großmutter, Mutter und Tante Georgia hatten ihr frenetisch gewinkt. Als sie mit Harry den Fuß der Rampe erreichte, winkte nur noch die Tante. Keine der anderen stürmte ihr entgegen, um sie in die Arme zu reißen. Sie war anderthalb Jahre fort gewesen, war braun wie ein Kutscher und hatte sich das Haar schneiden lassen, und die beiden Frauen standen stumm und rührten sich nicht.
    »Herzlich willkommen in deinem alten Portsmouth!«, brüllte Tante Georgia, doch der Witz, den sie hatte reißen wollen, blieb ihr im Hals stecken, als sie Mildreds Gesicht bemerkte. »Was ist,

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