Die Mondrose
leisten können. Außerdem hätte ein Anwalt nicht genügt, wir brauchten jemanden, der seinen Einfluss geltend machen konnte, und weil wir sonst niemanden kannten, habe ich mich an meinen Bruder gewandt. Nein, Lydia, spring mir nicht an den Hals. Was hätten wir tun sollen? Dich vor die Hunde gehen lassen?«
Lydia hätte keinesfalls die Kraft aufbringen können, Nora an den Hals zu springen. »Aber«, war alles, was sich ihrer Kehle abringen ließ.
»Aber, aber, aber«, fuhr Nora, die so selten die Stimme hob, auf. »Weißt du, was Rebecca gesagt hat? Ich möchte nicht in deiner Haut stecken, wenn du ihr das mitteilst, hat sie gesagt. Wir haben beide gewusst, dass du dafür über uns herfallen wirst.«
Was hatte sie denn getan? Nichts als »aber« hatte sie gesagt. Sie probierte es noch einmal. »Aber …«
»Jetzt hör um Gottes willen auf«, schnitt ihr Nora das Wort ab. »Wir hatten keine Wahl, und mein Bruder ist nicht der Unmensch, den du in ihm sehen willst, der Geächtete, dessen Name unter uns nicht erwähnt werden darf.«
Habe ich mich so verhalten?, wunderte sich Lydia. Sie hatte nie so gedacht. Mit schwachen Kräften versuchte sie es erneut: »Aber …«
»Aber er ist ein Mann, ich weiß. Er ist Hector Weavers Sohn, und er hat einen Fehler begangen – das macht ihn für alle Ewigkeit zum Teufel. Dass er danach ein ziemlich tapferes Leben geführt hat, dass er hinter unserer Sache steht und in seiner Partei dafür kämpft, zählt nicht. Weißt du eigentlich, wie hart du bist, Lydia? Und weißt du, dass du auch mich damit triffst?«
Lydia war entschlossen, nicht noch einmal aber zu sagen, doch auch anders hatte sie kein Glück. »Hast du …«
»Nein, ich habe ihm nicht gesagt, dass du hier wohnst«, blaffte Nora. »Er weiß es seit mehr als zehn Jahren. Was denkst du? Dass ich meinem eigenen Bruder verschweigen kann, mit wem ich lebe? Was glaubst du, warum ich nach Portsmouth fahren muss, wenn ich ihn sehen will? Weil er ein arroganter Schnösel ist, der Besuche in Whitechapel für unter seiner Würde hält? Nein, Lydia, sondern weil er deinen Wunsch, ihn nie wiederzusehen, achtet. Du hast ihm nichts vorzuwerfen. Und er leitet auch keine Rechte aus deiner Befreiung ab, sondern ist sofort wieder abgereist. Also sieh dich nicht um, als hätte ich ihn in deiner Truhe versteckt.«
Unwillkürlich fiel Lydias Blick auf die Truhe. Dass sich um ihretwillen – für ein altes, verdroschenes Weib – ein Mann darin versteckte, war lächerlich. »Nora«, krächzte sie, »bitte sei zwei Minuten lang still, und dann sag mir, warum du dich so aufregst. Ich habe kaum drei Worte gesagt und kein einziges gegen deinen Bruder.«
»Warum ich mich aufrege? Weil ich Angst hatte, diese Schlächter bringen dich um. Und jetzt, da ich dich sicher zu Hause habe, bekomme ich Angst, du läufst, wenn du hörst, was passiert ist, wieder auf die Straße, bis deine entzündeten Lungen den Geist aufgeben.«
Mühsam streckte Lydia den schmerzenden Arm aus und nahm Noras Hand. Sie hätte der Freundin viel sagen können. Dass sie ein altes Weib und schwach wie eine Tote war und dass sie vor niemandem aus ihrer sicheren Höhle fliehen würde, schon gar nicht vor dem Mann, dessen Liebe sie ab und zu noch immer wärmte. Sie hätte ihr sagen können, dass sie zu seinem, nicht zu ihrem Schutz beschlossen hatte, ihn nicht wiederzusehen, und dass es nichts Gutes auf der Welt gab, das sie ihm nicht wünschte. Aber das alles konnte sie zugleich auch nicht sagen, weil es niemanden anging. Weil es ihr weiter allein gehören musste. Es war alles, was ihr blieb. »Was ist denn passiert?«, fragte sie stattdessen.
»Mein Bruder ist abgereist«, antwortete Nora wie aus der Pistole geschossen. »Aber jemand anders ist angekommen. Ich habe immer gedacht, dass du dich nicht ewig verstecken kannst, dass du dich irgendwann stellen musst, aber ich war nie mutig genug, dir das zu sagen. Ich habe meine Nichte hier, Lydia. Sie ist gestern Abend gekommen, während wir dich abgeholt haben, und sie besteht darauf zu bleiben, bis sie dich gesprochen hat. Sie will dich nur kennenlernen, sagt sie. Sie heißt Annette Alexandrina und ist ein wundervolles Mädchen. Sie könnte deine Tochter sein.«
»Sie heißt wie?«
Dazu, die sinnlose Frage zu beantworten, kam Nora nicht mehr, denn im nächsten Moment zog das Mädchen, von dem die Rede war, die Tür auf. Trotz des Zwielichts war der Schrecken überwältigend. Lydia war sicher, sie hätte unter Tausenden
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