Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
Vom Netzwerk:
Mutter? Laus über die Leber gelaufen, und das ausgerechnet heute?«
    Großmutter Mildred beachtete sie nicht. »Was tut der hier?«, fragte sie tonlos und wies mit ausgestrecktem Arm auf Harry. Der stockte in der Bewegung. Erst jetzt sah Selene, dass er totenbleich war. Auch die Großmutter war totenbleich, und nur die Mutter war noch bleicher.
    »Das ist mein Kollege Harry Matthew«, sagte Selene noch immer in dem Glauben, die seltsame Missstimmung werde sich binnen kurzem in Wohlgefallen auflösen. »Wir sind uns auf der Werft begegnet und sind Freunde geworden. Wir fahren beide auf der Titanic nach New York.«
    Selenes Mutter stieß einen spitzen Laut aus.
    »Scher dich hier weg«, zischte Großmutter Mildred. »Scher dich um alles, was dir lieb ist, weg!«
    »Willkommen bei den Weavers«, bemerkte der Onkel und streckte Harry die Hand hin, obwohl er Händeschütteln hasste. »Der beste Rat, den ich Ihnen geben kann, lautet: Nehmen Sie uns nicht ernst.«
    Harry ließ seine Hand in der Luft hängen. Er starrte Großmutter Mildred an.
    »Hat uns die Wiedersehensfreude den Verstand umnebelt?«, fragte Georgia. Niemand beachtete sie.
    Endlich berührte Harry ihren Arm. »Ich muss gehen«, sagte er leise. »Verzeih mir.« Damit hob er sein Gepäck auf, eilte los und tauchte in der Menschenmenge unter.
    Der Rest der Szene war ein groteskes Durcheinander aus Gerangel, Gezeter und Geheule. Selene wollte ihm folgen, die Großmutter packte sie am Arm, und ehe sie sich losgerissen hatte, hängte die Mutter sich an ihren Hals und bettelte, sie solle mit ihnen nach Hause kommen. Nichts anderes sei wichtig, als dass sie wieder daheim sei. Selene war dennoch hinter Harry hergestürmt, aber natürlich kam sie zu spät, und dann wuchs auf einmal ihr Vater aus dem Boden und packte sie schmerzhaft am Arm. »Du kommst jetzt mit. Irgendwann müssen diese Kapriolen ein Ende haben, oder deine Mutter geht daran kaputt.«
    Nie zuvor hatte ihr Vater ihr weh getan. Die Eltern verfrachteten sie ins Haus und vor den Stapel Post in ihrem Zimmer. Die Mutter ließ Rose, das Mädchen, Platten mit Obst und Konfekt auffahren, weinte, flehte und erklärte schließlich, sie und der Vater müssten jetzt zu Großmutters Willkommensfest fahren, Selene solle nachkommen, sobald sie sich in der Lage fühle. »Die Großmutter ist alt, und sie war außer sich, Liebling. Wir wollen doch nicht, dass ihr etwas geschieht.«
    »Sprich nicht mit mir, als wäre ich fünf Jahre alt!«, schrie Selene. Ihr Vater sprang auf sie zu, aber ehe er sie schlagen konnte, riss ihre Mutter ihn zurück.
    »Tu das niemals, Andrew«, sagte sie und brach in Tränen aus. »Wenn du mein Kind schlägst, siehst du mich nicht wieder.«
    Selene wusste nicht, wer von beiden ihr in diesem Augenblick mehr zuwider war.
    Die Eltern waren endlich aufgebrochen, und Selene hatte Rose, die sich um sie kümmern wollte, weggeschickt. Doch auch als sie allein war, wurde sie der Verwirrung, dem Gefühl, blind in einen Schacht gestürzt zu sein, nicht Herr. Wo war Harry? Warum spielten alle verrückt? Nur weil der Werftarbeiter nicht ihrer Klasse angehörte, weil ihre Verwandten fürchteten, sie wolle eine Mesalliance eingehen? Begriffen sie wirklich nicht, dass die Zeiten sich änderten? Außerdem hatte sie ihnen doch erklärt, dass es sich bei Harry um einen Kollegen handelte, nicht um einen künftigen Verlobten. Zorn auf Thomas, der die Situation hätte retten können, packte sie. Aber hätte überhaupt jemand die Situation retten können, war sie nicht völlig verfahren und verrückt?
    Was sie schließlich bewog, mit der Durchsicht der Briefe und Karten auf ihrem Schreibpult zu beginnen, blieb fraglich. Vielleicht die Hoffnung, eine Nachricht von Annette zu finden, die dem Onkel zufolge auf einem Archäologenkongress in London war. Vielleicht der Wunsch, irgendetwas Banales, Gewöhnliches zu tun, um ihre aufgepeitschten Nerven zu besänftigen. Was sie damit jedoch bewirkte, entsprach dem genauen Gegenteil.
    Die Karte steckte in einem Umschlag aus billigem Papier. Es war eine altmodische Karte, die den Clarence Pier zeigte, wie er zum Zeitpunkt seiner Eröffnung ausgesehen haben mochte, lange bevor der South Parade Pier ihm den Rang ablief. »Grüße aus dem schönen Portsmouth« stand in weißer Schrift darübergedruckt. Wer schickte ihr das? Touristen einer fernen Epoche mochten solche Karten gekauft haben.
    Als sie sie umdrehte, glaubte sie einen halben Herzschlag lang, sie stamme von ihrer

Weitere Kostenlose Bücher