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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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Mutter – die stellte schließlich das ganze Haus mit alten Fotos voll und schrieb ihrer Tochter zu jedem Anlass Karten. Zudem stand in der ersten Zeile: »Liebste Tochter«. Als der halbe Herzschlag vorüber war, musste Selene nach Luft schnappen. Die Schrift der Mutter war rund und gefällig, diese hier war schief und eckig, wie geschrieben von ungelenker Hand.
    »Liebste Tochter. Willkommen daheim. Wie gern würde auch ich an dem Fest zu Deiner Begrüßung teilnehmen, doch ich wäre die Letzte, die Mildred einlüde. Ich bin nicht mehr vorzeigbar – nicht nur geistig verwirrt, sondern vor allem Mutter eines Balgs ohne respektablen Vater. Deine Mutter, Kleines. Es sei zu Deinem Besten, versicherte man mir, wenn man Dich bei den braven Ternans unterbringe und ich aus Deinem Leben verschwände. Schade nur, dass wir beide uns nun nie kennenlernen werden, und wer weiß, ob ich überhaupt noch lebe. Die erste unliebsame Person, die Mildred aus dem Weg geschafft hätte, wäre ich nämlich nicht. In Liebe, Deine Mutter.«
    Selene war ein vernünftiges Mädchen des 20. Jahrhunderts, das weder zu Ohnmachten noch zu hysterischen Anfällen neigte und höchst selten etwas Unbedachtes tat. Was an diesem Tag auf sie einstürzte, setzte jedoch alles, was bisher gegolten hatte, außer Kraft.
    Selene jagte aus dem Haus, ohne nachzudenken. Sie rannte den ganzen Weg nach Mount Othrys und schwang dabei die Karte wie eine Fahne vor sich her. Was in ihr vorging, vermochte sie nicht zu benennen. Es war zu viel, es kam aus sämtlichen Richtungen, und es war zu fremd, um einen Namen zu haben.
    Vor dem Hotel salutierten heute weder Pagen noch Hausdiener. Ein Mann im grauen Anzug stand dort, der offenbar auf sie wartete. Thomas. Er lief geradewegs auf sie zu und schloss sie in die Arme. Dass sie sich wehrte, ignorierte er, und als sie zu schreien ansetzte, legte er ihr eine Hand auf den Mund. »Du musst mir verzeihen, Titanin«, sagte er. »Und du musst mich anhören. Erst wenn du mir das versprichst, kann ich dich loslassen. Ich habe mich in dich verliebt, als ich dir an der Helling der grausigen Dreadnought zum ersten Mal begegnet bin, und dass ich mich wie Europas größter Idiot benommen habe, hat alles mit mir und nichts mit dir zu tun. Aber es ist vorbei, meine Schöne. Lass mich es dir erklären, und dann spreche ich mit deinem Vater, einverstanden? Ich liebe dich.«
    Selene tat das Einzige, das ihr in ihrer grotesken Lage möglich schien. Während er sich auf ihren Mund konzentrierte, befreite sie ihre Hand und versetzte ihm einen Boxhieb vor die Brust. Vor Schreck ließ er sie los, und sie stürmte ins Haus und in den großen Saal.
    Die Großmutter hatte Bar und Büfett aufbauen lassen, und am Flügel spielte ein Mann einen schicken neuen Walzer, der »Love unspoken« hieß.
    »Unausgesprochene Liebe, ungebrochene Treue,
    Ein ganzes Leben hindurch.«
    Ein modernes Grammophon kam der Großmutter nicht ins Haus, es musste der alte Steinway sein – Mount Othrys war ihr Märchenschloss, das auf immer unverändert bleiben sollte. Auch wenn der Pianist nicht sang, schien der Text des Liedes Selene zu verhöhnen. Mit einem Blick durchmaß sie den Raum. Der Großvater war wie eine Puppe in einen Sessel gepflanzt und mit Kissen gestützt worden. Lebendig waren nur seine Hände, die sich um einen unsichtbaren Gegenstand krampften. Der Onkel stand mit der Mutter bei der Bar und warf hin und wieder ein Wort in ihren gehetzten Redefluss. Der Vater stand hinter ihr, die Großmutter vor dem Büfett, wo sie auf Tante Georgia einschimpfte, die zu Tieren gefaltete Servietten zwischen die Platten mit Speisen setzte.
    Ihre Eltern waren mit Selene in die Oper und ins Prinzentheater gegangen, aber sie hatte sich nie dafür begeistern können. Zu theatralisch, zu weit vom wirklichen Leben entfernt erschienen ihr die Gesten der Schauspieler. Jetzt wurde sie selbst zu einem, und ihr Leben hatte sich in eine lächerliche Bühne verwandelt. Sie lief in die Mitte des Saals und warf die Karte auf den Boden. Die war zu leicht, um zu fallen, und segelte in Kreisen. »Sagt mir vielleicht jemand, was für ein krankes Spiel das ist?«, schrie sie.
    Niemand rührte sich. Mitten im Stück war die Szene erstarrt. Endlich erbarmte sich der Onkel, ging und hob die Karte auf. Schweigend las er, schweigend sah er Selene ins Gesicht, und schweigend gab er die Karte an ihre Mutter weiter. Ehe sie zu lesen begann, war auch die Großmutter bei ihr. Die Mutter stolperte

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