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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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Schwester Chastity, die Jüngste, die so züchtig, wie der Name sagt, nicht war, sondern mit neunzehn durchbrannte und sich mit einem Vertreter des unschönen Geschlechts einließ. Das Ergebnis bist du, mein Vögelchen. Und da auf der einen Seite eine Mutter stand, die für ihr Kind nicht sorgen konnte, und auf der anderen ein Paar, das sich sehnlichst eines wünschte, bestimmte unsere Göttermutter Mildred, das Kind werde aus den Händen von Chastity in die von Esther übergeben.«
    Selene war zu erschlagen, um etwas zu sagen. Es war Horatio, der fragte: »Und was ist mit Chastity?«
    »Das weißt du auch nicht?«, fuhr Georgia verblüfft auf. »Aber deine Lydia muss es doch gewusst haben, meine Schwester Esther hat ja deiner Lydia jede Kleinigkeit aus ihrem Leben erzählt.«
    »Meine Lydia war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr mein«, erwiderte Horatio kalt. »Sie hat nie wieder mit mir gesprochen. Als ich irgendwann zu mir kam, habe ich Mildred gefragt, und die hat mir erzählt, Chastity sei an der Cholera gestorben.«
    »Nicht zu fassen«, murmelte Georgia und starrte auf ihre Hände. »Einfach nicht zu fassen.«
    »Was?«, fragte er noch immer mit der Kälte in der Stimme, die Selene frösteln ließ. »Dass Mildred ist, wie sie ist?«
    Georgia nickte stumm.
    »Ich finde, das ist ziemlich leicht zu fassen«, erwiderte Horatio erbarmungslos. »Mildred macht aus dem, was sie ist, keinen Hehl, und nicht fassen kann ich, dass ihr sie euer Leben lang damit davonkommen lasst.«

Kapitel 54
    Anfang April
    B esuch kam immer an Freitagen. In der Zeit zwischen drei Uhr nach der Mittagsruhe und fünf Uhr vor dem Tee durften die Insassen des Heims Besuch empfangen, sofern ihr Betragen während der Woche tadellos gewesen war und der Besuch sich ordentlich angemeldet hatte. Zu viele Besucher sah die Heimleitung nicht gern. Zu viele Besucher brachten Unordnung in den Ablauf des Heimlebens und störten die Insassen auf. Anfangs hatte Amelia zu jenen gehört, die zu viel Besuch empfingen. Ihre Mutter kam jede Woche. Irgendwann wurden die Besuche seltener, und schließlich kam die Mutter nur noch zweimal im Jahr, zu Weihnachten und zu Amelias Geburtstag. Wäre es nach Amelia gegangen, so wäre die Mutter überhaupt nicht gekommen, doch die Heimleitung hatte ihr erklärt, sie dürfe ihre Mutter nicht hassen. Sie dürfe auch nicht durch die Gänge schreien, ihre Mutter sei eine Mörderin. Aber schweigen durfte sie. Und froh sein, dass die Mutter nur noch selten kam.
    Amelia war nicht verrückt, obwohl sie in einem Heim für Verrückte untergebracht war. »Es ist ja kein Heim für Verrückte, kein Asylum«, hatte die Mutter beteuert. »Ein Sanatorium ist es, wo man aufs Beste für dich sorgt.« Aufs Beste versorgt war Amelia wirklich. Sie hatte ein eigenes Zimmer, bekam erlesene Speisen vorgesetzt und trug seidene Nachthemden, die zweimal wöchentlich gewechselt wurden. Dennoch ließ sich nicht leugnen, dass in dem Heim Verrückte wohnten. Menschen, die eingeschlossen werden mussten, weil sie sonst auf andere losgingen, die versuchten sich mit ihren Buttermessern Schnitte beizubringen und sich einbildeten, Tiere, Königssöhne oder Jack the Ripper zu sein.
    Amelia war nicht verrückt. Sie hatte nur eine kurze Spanne Zeit durchlebt, in der sie verrückt gewesen war, gebrüllt und um sich geschlagen hatte und gefesselt werden musste, damit sie sich und anderen nichts antat. Seit die Spanne Zeit vorüber war, funktionierte ihr Verstand wieder wie zuvor, nur dass es in ihrer Erinnerung blinde Flecken gab, die blind bleiben mussten, weil ihr Anblick unerträglich war. Sie wusste auch, dass sie nicht Amelia Ralph hieß, sondern Chastity Weaver. Aber da das einzige Glück in ihrem Leben Amelia Ralph hieß und da die Pflegerinnen sich daran gewöhnt hatten, blieb es dabei.
    An diesem Freitag hatte es zu Mittag Fischpastete mit Erbsen und kleinen Kartoffeln gegeben. Amelia machte sich aus Essen wenig, aber der Speiseplan war die einzige Abwechslung, die der Tag bot. An diesem Freitag regnete es, und der Regen fiel in dicken Schlieren an Amelias Scheibe. Nach der Mittagsruhe kam Liz, ihre Pflegerin. Das Personal klopfte nie an, es musste jederzeit Zugang zu den Zimmern haben. »Es gibt eine Überraschung für Sie«, sagte Schwester Liz. »Sie bekommen Besuch. Sie müssen uns aber versprechen, dass Sie sich von niemandem erregen und in Ihrem Gleichgewicht erschüttern lassen. Sie haben doch so ein schönes Gleichgewicht, das wollen wir doch nicht

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