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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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gefährden.«
    Zuerst hoffte sie, dass es sich um eine Verwechslung handelte. Als aber Liz beharrte, der Besuch im Sprechzimmer sei für sie, sagte Amelia: »Meine Mutter kommt erst an meinem Geburtstag. Ich will sie vorher nicht sehen.«
    »Der Besucher ist nicht Ihre Mutter«, erwiderte Liz.
    »Meine Schwester Georgia?« Amelia hatte sich gefragt, ob Georgia wohl so wie Phoebe und Esther gestorben sei.
    Liz schüttelte den Kopf. »Kommen Sie, sehen Sie sich die junge Dame einfach einmal an. Und wenn sie Ihnen missfällt, bin ich ja dabei und kann sie wegschicken.«
    Amelia folgte ihr. Sie hätte sich den Aufwand lieber gespart, weil sich damit für sie eine unbestimmte Hoffnung und später eine Enttäuschung verband, aber es war klüger zu tun, was die Pflegerin vorschlug. Sie kannte ja keine jungen Damen. Nach einem Blick auf sie würde sie Liz bitten, sie wegzuschicken.
    Das Mädchen wartete in dem düster möblierten Sprechzimmer und stand auf, sobald Amelia eintrat. Amelia warf einen Blick auf sie und wusste, dass sie sie nicht wegschicken wollte. Sie war wunderschön. Sie hatte honigbraunes lockiges Haar, das sie auf Kinnlänge geschnitten trug, und helle Augen, denen Amelia sofort vertraute. »Bitte gehen Sie«, sagte das Mädchen zu Liz. »Wir wollen allein sein.«
    »Das ist leider nicht möglich«, erwiderte Liz und baute sich neben der Tür auf. »Es widerspricht den Anstaltsregeln.«
    »Das ist mir egal«, sagte das Mädchen. »Meine Mutter und ich sind doch keine wilden Tiere, wir haben das Recht auf Zeit für uns allein.«
    Meine Mutter und ich. Sie hatte es gewusst. Immer wenn der Wunsch zu sterben sie zu übermannen drohte, hatte sie es sich allem Schmerz zum Trotz ins Gedächtnis gerufen: Eines Tages wird sie zu mir kommen. Eines Tages werde ich erfahren, wie mein Kind aussieht. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass Charles und das Kind tot seien, Charles im Krieg in Afrika gefallen und ihr Kind gleich nach der Geburt, während sie in Ohnmacht lag, gestorben, aber Amelia hatte es nicht geglaubt. Das mit Charles wohl. Charles musste ja tot sein, weil er nie gekommen war, um sie zu holen. Vielleicht hatte die Mutter ihn totgemacht. Aber ihr Kind war nicht tot – weshalb sonst war sie nicht fähig zu sterben?
    »Dieses Streiten geht von Ihrer Sprechzeit ab«, sagte Liz.
    Ehe das Mädchen noch einmal protestieren konnte, trat Amelia vor sie und streckte ihr die Hände hin. »Es ist in Ordnung«, sagte sie. »Liz wird uns nicht stören.«
    Wie im Unglauben starrte das Mädchen auf Amelias Hände. »Aber ich will mit Ihnen allein sein!«, rief sie mit dem Trotz von ganz jungen Menschen, die noch nicht gelernt haben, dass man sich im Leben fügt oder zerbricht. »Ich brauche Wochen allein mit Ihnen, ich will alles wissen, was mir verschwiegen worden ist, weil ich sonst nicht weiterleben kann.«
    Amelia streckte ihre Hände noch ein Stück weiter vor. Sag es, beschwor sie das Mädchen stumm, bemerkte, dass ihr schwindlig wurde und Tränen ihr die Sicht raubten. Durch Schleier sah sie, wie das Mädchen sich überwand, ihre Hände packte und sie festhielt. »Ich bin Selene«, sagte sie. »Einen Nachnamen habe ich nicht mehr. Ich bin Ihre Tochter.«

    Sie war, wie ihr Vater gewesen war, Annette Alexandrina. Sie ließ sich nicht abwimmeln. Dass Lydia verletzt war und Schonung brauchte, sah sie ein, aber sie bestand darauf, sich täglich eine Stunde lang an ihr Bett zu setzen und mit ihr zu sprechen. Es war Lydia unangenehm. Sie hatte niemanden, nicht einmal Rebecca und Nora gern um sich, so schwer sich das erklären ließ. Sie war nicht mehr Lydia. Sie war das alte Weib, das man zu hilflosem Gelump prügeln und zwangsfüttern konnte. Das alte Weib wollte allein sein, am liebsten im abgedunkelten Raum. Annette Alexandrina aber nahm keine Rücksicht darauf, und sie war, wie ihr Vater gewesen war – sie hinauszuwerfen erschien, als würfe man das Leben hinaus.
    Sie versuchte es täglich auf dieselbe Weise. »Jetzt erzählen Sie mir von meinem Vater. Sehen Sie nicht, dass ich vor Neugier platze?«
    »Dann fragen Sie Ihren Vater, nicht mich.«
    »Mein Vater ist schweigsam wie das Aztekengrab von Calixtlahuaca.«
    »Das ist Ihr Problem, nicht meines.«
    »Aber es war einmal Ihres, oder nicht?«
    Sie war frech, respektlos und umwerfend. So übel es ihr erging, es machte Lydia froh zu erleben, dass junge Mädchen im Jahre 1912 so sein konnten. Sie wollte sie loswerden, wollte sich in ihrer Austernschale verkapseln,

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