Die Mondrose
doch zugleich hatte sie vor dem Tag, an dem sie gehen würde, Angst. Zuweilen ließ Annette sich ablenken, weil sie sich für alles und jedes interessierte. Dann sprachen sie über die Frauenbewegung, über Annettes Hoffnung auf ein Studium und über den Zauber der Archäologie. »Sie haben recht«, gestand Lydia. »Vielleicht haben wir in unserem Fortschrittsglauben wirklich nicht genug Lehren aus der Geschichte gezogen. Vielleicht kommen wir deshalb in unserem Kampf so schlecht voran.«
»Und was ist mit Ihrer eigenen Geschichte?«, ergriff Annette die Gelegenheit beim Schopf. »Wenn Sie die nicht so verbissen leugnen würden, vielleicht könnten Sie daraus Lehren für Ihre Zukunft ziehen.«
Ich bin ein altes Weib. Für welche Zukunft brauche ich noch Lehren? Sie bemühte sich um ein Grinsen. »Ich bin der Azteke im Grab von Calixtlahuaca. Ich behalte meine Geschichte für mich.«
»Ach kommen Sie, Lydia, war es mit meinem Vater wirklich so übel, dass Sie sich wie ein Krebs verschalen müssen, wenn Sie nur daran denken?«
Lydia fuhr zusammen. Sah man ihr so deutlich an, wie es ihr ging? Sie schwieg, und ausnahmsweise schwieg Annette auch. Nein, dachte Lydia, mit deinem Vater war es so schön, dass das verschalte Weib nicht daran denken mag. Fahr endlich nach Hause, Wunderwesen. Ich gönne dir deinen Vater und deinem Vater von Herzen dich.
Und dann fiel ein Gepolter ins Schweigen, von dem sie augenblicklich wusste, was es bedeutete. Türen schlugen, und Nora rief etwas, doch eine Männerstimme übertönte sie: »Nein, Nora, ich höre dich nicht an. Ich muss Lydia sprechen, und mir ist völlig egal, ob euch das passt oder nicht.«
Er kam, um sein Kind zu holen. Sie musste die Augen zukneifen, bis er mit seinem Kind aus dem Zimmer war, dann hätte sie alles überstanden. Die Tür flog auf. »Aha«, sagte er, »das hier ist also ein archäologischer Kongress.« Lydia kniff die Augen zu, was gegen den Klang seiner Stimme jedoch nichts bewirkte.
»Vater«, stammelte Annette überrumpelt.
»Es ist beschämend, findest du nicht? Ich wüsste nicht, dass einer von uns je Grund gehabt hätte, den anderen zu belügen.«
»Ach nein?«, rief Annette, ihre Verlegenheit überspielend. »Hast du es vielleicht mit der Wahrheit genau genommen, hast du jemals erwähnt, dass Lydia auch nur existiert?«
»Etwas für sich zu behalten hat nichts mit Lügen gemein«, erwiderte er. »Aber das weißt du selbst. Geh jetzt und pack deine Sachen. Wir fahren in einer Stunde nach Hause.«
»Hast du es nötig, vor der Frau, die dich verlassen hat, den Machthaber herauszukehren, oder warum kommandierst du mich herum?«
»Die Frau, die mich verlassen hat, sieht nicht einmal zu, wie ich den Machthaber herauskehre«, versetzte er ungerührt. »Ich will, dass du mit nach Portsmouth kommst, weil deine Freundin Selene dich braucht. Was du anschließend tust, liegt selbstredend bei dir.«
Annette zögerte, dann ging sie zu ihm. Gegen ihren Willen öffnete Lydia die Augen und sah, wie sie ihm die Hände auf die Schultern legte. Er trug Schwarz wie vor hundert Jahren, seine Schönheit war gealtert wie Wein, und die beiden sahen einander so ähnlich, dass es schmerzte. »Es tut mir leid«, sagte Annette.
Horatio zog sie kurz an sich. »Nein, tut es nicht. Und das macht nichts. Geh jetzt packen, ja?«
»Ich habe ja fast nichts ausgepackt. Kann ich nicht bleiben?«
»Nein. Ich muss mit Lydia allein sein.«
Geh nicht, wollte Lydia rufen, nimm ihn mit, aber das Mädchen ging und ließ den einzigen Mann ihres Lebens allein mit dem alten, zerbrochenen Weib. Sie kniff die Augen wieder zusammen, aber das Bild saß längst dahinter fest.
Er wartete, bis die Tür sich schloss. »Nein, Lydia«, sagte er dann, »schrei nicht, ich soll mich zum Teufel scheren, und ruf auch nicht Nora und Rebecca. Ich verspreche, ich komme nicht näher und stelle keine Fragen. Ich bin hier, weil ich deine Hilfe brauche. Nicht für mich. Für Esther. Bitte komm mit mir nach Portsmouth. Sag Esther, die völlig willenlos ist, dass sie kämpfen muss, weil sie sonst ihre Tochter verliert.«
Es erstand alles wieder auf. Die Tage im ewigen Regen und Esther, die tränenüberströmt vor ihrer Tür stand. »Du weißt es?«
»Ich denke. Und ich würde dir gern Handschuhe für deine Augen geben, damit du sie nicht so zukneifen musst.«
Lydia schlug die Augen auf. »Esthers Tochter – das ist Chastitys Kind?«
»Ja. Selene.«
»Und sie haben es ihr bis jetzt verschwiegen,
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