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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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Platzen zu bringen.
    »Ist dir kalt, Kind? Soll ich um eine Decke für dich bitten?« Schüchtern wandte sich Chastity – ihre Mutter – ihr zu. Sie zitterte noch immer, und auf ihrer Oberlippe glänzte ein Schweißtropfen.
    Selene warf die Arme um die kleine Frau. Sie kannte sie gar nicht. Sie wusste nicht, wie sie es anstellen sollte, sie kennenzulernen, aber ihr Wunsch, sie zu lieben und auf dem ins Unendliche wachsenden Meer nicht allein zu sein, überwältigte sie.
    Die Frau drückte sie an ihren knochigen, bebenden Leib. »Das hat mich erschreckt«, murmelte sie. »Jetzt, da ich dich endlich habe, darf uns doch kein Schiff ums Leben bringen. Ich bin albern, was? Aber du bist mir nicht böse? Ich habe ja gar keine Ahnung von der Welt, ich lebe noch immer in Königin Victorias Reich, und ich glaube, ich habe schon damals vom Leben nichts verstanden.«
    »Ich auch nicht«, erwiderte Selene, die Technokratin des 20. Jahrhunderts, und meinte, was sie sagte. »Weißt du was? Mir ist wirklich kalt. Gehen wir essen. Ich glaube, zur Feier des Tages will ich heute den schwersten Rotwein auf der Karte trinken.«

    In dieser Nacht hatte sich Mildred zum ersten Mal das Paradies vorgestellt. Dass eines auf sie wartete, bezweifelte sie, aber wenn sie sich eines hätte wünschen können, wäre es ein Ort ohne Post gewesen. Georgia hatte sie zu bewegen versucht, in Mount Othrys eins der neumodischen Telefone installieren zu lassen, doch Mildreds Antwort dazu lautete: »Nur über meine Leiche.« Eine weitere Einrichtung, durch die Hiobsbotschaften ins Haus gelangten, brauchte sie nicht. Vierzig Jahre mit Briefen genügten ihr vollkommen.
    Im Strudel der Ereignisse hatte sie Victor vergessen. Ihm mochte es genauso ergangen sein. Seine Hedwig war gestorben, vermutlich hatte ihr Tod ihn gelähmt. Jetzt aber saß er ihr erneut im Nacken. Der Brief lag vor ihr. Sie hätte ihn ungeöffnet wegwerfen mögen, aber das hatte sie nie gewagt.
    »Da hast Du mich wieder, Mildred, nachdem Du gewiss gehofft hast, ich hätte aufgegeben. Aber das kann ich ja nicht. So wenig wie Du. Meine Hedwig ist tot. Ich wünschte, ich hätte an ihrer Stelle gehen dürfen. Was mich am Leben hält, ist der Wunsch, meine Tochter und mein Enkelkind zu sehen. Sag mir, wo sie sind, Mildred, ich flehe Dich an!«
    Was soll ich dir denn sagen? Dass ich sie auch verloren habe, dass der Unmensch, der mein Leben in den Klauen hält, sie mir genommen hat? Ich wollte sie schützen – vor einem Wissen, mit dem kein Mensch leben kann, wie vor der Welt, die sich das dreckige Maul zerreißt. Ich bin gescheitert, Victor. Du bedrohst eine Frau, bei der es nichts mehr zu holen gibt, weil sie alles verloren hat.
    »Ich werde zu Dir kommen, Mildred«, stand im letzten Abschnitt. »Ich werde Dich vor Deiner Familie fragen, wo meine Tochter ist. Ich habe nicht gewollt, dass in alledem noch jemand verletzt wird, am wenigsten Mr Weaver. Du aber lässt mir keine Wahl.«
    Nein, dachte sie, und du mir auch nicht. Sie stand auf und ging hinüber zu dem schmalen, mit asiatischer Einlegearbeit verzierten Schränkchen, das sie aus Mount Othrys herüber auf das Altenteil geholt hatte, als die letzten Räume zu Suiten umgewandelt worden waren. Nicht, weil es so schön war – die schönsten Stücke hatte sie im Hotel belassen –, sondern weil George Weaver darin Waffen aufbewahrt hatte, was weibliche Gäste verschrecken mochte. Sie schloss den Schrank auf und nahm die beiden Kästen mit den Pistolen heraus. Das Jagdgewehr hatte sie vor Jahren verkauft, aber die Pistolen würde sie prüfen lassen und die brauchbarste säubern und richten. Eine Schusswaffe abfeuern konnte jeder, sie war verlässlicher als ein Messer, und um einen alten Mann zu töten, brauchte man gewiss nicht gut zu zielen.
    Du lässt mir keine Wahl, Victor. Ich habe diese Familie und dieses Haus mein Leben lang beschützt, und ich werde es tun, bis ich sterbe. Lieber hätte ich den getötet, der uns das angetan hat, aber der war stärker als wir beide zusammen – er hat uns beide besiegt. Wenn Victor kam, würde die Waffe auf ihn warten. Sie würde erst ihn erschießen und dann sich.

Kapitel 56
    14. April 1912
    E s ging besser. Sie kamen sich näher. Um so wenig wie möglich zu denken und um irgendwann schlafen zu können, brauchte Selene viel Rotwein, aber auf der Titanic herrschte an nichts, was Passagiere wünschten, Mangel, und Geld besaßen sie genug. Auf See zu sein, ohne Land in Sichtweite, half. Die Titanic schien

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