Die Mondrose
ein Kosmos für sich, eine versiegelte Muschel, die ihre Bewohner vor allem abschirmte – selbst vor Vergangenheit und Zukunft, die mit jedem Tag unglaubhafter schienen. Selene verstand jetzt, was ihre Großmutter meinte, wenn sie predigte, in die Märchenwelt ihres Hotels dürfe von der Wirklichkeit kein Schimmer dringen. Tante Georgia pflegte diese Predigten zu wiederholen: »Ein Gast in Mount Othrys hat das Recht, sich zu vergessen und sich neu zu erfinden – zu sein, wer ihm beliebt.«
Genau das taten Selene und Chastity. Sie tauchten ein in den Luxus des Schiffs und wurden zu Mutter und Tochter Weaver, Weltenbummlerinnen auf der ersten Reise nach Amerika. Mitreisenden gaben sie entsprechend Auskunft und zogen sich zurück. Sie wollten allein sein, hatten genug mit sich zu tun.
Einmal sagte Chastity: »Du bist so gebildet, Selene, und so weltgewandt. So heil bist du – meine Schwester und ihr Mann müssen gut für dich gesorgt haben.«
»Vergiss sie«, entgegnete Selene, die sich alles andere als heil fühlte. »Das ist vorbei. Jetzt gibt es nur noch uns.«
Chastity bemühte ihr kleines ungeübtes Lächeln. »Manchmal mache ich mir Sorgen. Du gibst so viel auf für mich, und ich habe nichts für dich.«
»Du bist meine Mutter.«
»Ja«, sagte Chastity gepresst, »aber dafür ist es jetzt zu spät, nicht wahr? Ich kann dir kein Wiegenlied mehr singen. Ich habe nie eines gesungen. Wer weiß, ob ich es überhaupt gekonnt hätte.«
In der Nacht, als sie in ihrer Kabine in den Etagenbetten – Selene oben, Chastity unten – lagen und trotz des Weins die schwarze Leere über sie hereinstürzte, rief Selene: »Sing es mir jetzt. Sing mir ein Wiegenlied.«
»Ich glaube, ich habe den Text vergessen.«
»Das macht nichts.«
Mit brechender, unmelodischer Stimme begann Chastity ein Lied zu singen, das Selene nicht kannte. Aber die Sprache kannte sie. Es war Thomas’ Sprache, wenn auch mit schwerem Akzent.
»Woher kennst du das?«
»Dein Vater hat es mir beigebracht. Es handelt vom Mond, der das Schönste bleibt, auch wenn er nur halb zu sehen ist. Wir hatten eine Rose, die Blauer Mond hieß, im Garten. Ich habe sie nie gesehen, aber meine Schwester hat mir davon erzählt.«
»Mein Vater war Deutscher?« Thomas am Kai fiel ihr ein, sein Gerede, er sei Annettes Cousin. Ihr Herz schlug hart.
»Zur Hälfte«, antwortete Chastity mit einer Spur von Stolz. »Sein Vater war ein Deutscher aus Hamburg. Aber seine Familie hat ihn verstoßen – so wie meine mich.«
Warum ihr der Wein, den sie bisher in großen Mengen vertragen hatte, in dieser Nacht solche Übelkeit bereitete, wollte Selene sich nicht fragen. Annettes Großvater war ein Deutscher aus Hamburg. Aber nach allem, was sie wusste, war Hamburg eine große Stadt.
Am Morgen erwachte Selene mit schwerem Kopf, doch sie gab sich alle Mühe, Chastity nicht den Tag zu verderben. Sie frühstückten spät, aßen mittags nur ein paar Bissen Käse und Obst und verbrachten den Nachmittag in der Bibliothek, wo sie feststellten, dass es nicht ein Buch gab, das ihnen beiden gefiel. Chastity liebte Gedichte, Märchen und Sagen, während Selene noch immer gern in die Geschichten von Abenteurern und Weltumseglern eintauchte, die ihr Ziehvater ihr als Kind vorgelesen hatte. Dazu verschlang sie Nachschlagewerke zu Wissenschaft und Technik, wie ihre Mutter sie ihr stapelweise geschenkt hatte.
Ihr Vater, ihre Mutter – sie wollte so nicht mehr denken. Die Lust am Bücherlesen war ihr vergangen, und sie schlug vor, Chastity das Schiff zu zeigen, das geniale Schottensystem, das die Titanic unsinkbar machte. »Onkel Horatio hat geholfen, es zu entwerfen, auch wenn er sagt, dass es gar nicht genial ist, sondern nur ein Versuch, wie alles, was Menschen tun.« Sie schlug sich auf den Mund. War das die Nachwirkung des Weins, kam sie heute überhaupt nicht von dem, was vorüber war, los? Nach einer Schiffsbesichtigung stand ihr nicht mehr der Sinn.
»Mein Cousin Horatio hatte einen bösen Vater«, sprach Chastity vor sich hin. »Sehr, sehr böse. Wir alle hatten Angst vor ihm, sogar meine Mutter, die Mörderin, die sonst vor niemandem Angst hatte.«
Dunkel erinnerte sich Selene. Als Kind hatte es ihr Spaß gemacht, die Mutter nach dem Großonkel, mit dem niemand verkehrte, zu fragen, weil die Mutter sich so lustig unter ihren Fragen wand. Jetzt wünschte sie, sie hätte einmal auf einer Antwort bestanden. »Warum war er böse?«, fragte sie ohne Hoffnung, von Chastity etwas zu
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