Die Mondrose
essen gehen und dir erzählen, dass du die hübschesten Ohren von England hast. Ich will meinen Kopf in deinen Schoß legen und mich wie ein Rotzjunge bei dir ausweinen, weil ich mich nach dir krank gesehnt habe. Mehr weiß ich nicht. Und mehr will ich jetzt auch nicht wissen müssen.«
Er erhob sich und wandte sich zur Tür. Sie sprang auf, lief hinter ihm her und warf ihm die Arme um die Schultern. Der linke tat weh. Aber ihre Füße waren gesprungen wie die von einem jungen Mädchen. »Ich will’s auch nicht wissen müssen«, flüsterte sie in sein Ohr. »Nur nicht noch einmal allein sein.«
Er drehte sich um, sah ihr in die Augen und schwieg.
Kapitel 55
Southampton Harbour, 10. April 1912
G ott mit dir, Titanic!«
»Gute Reise, gute Reise!«
Kein Klafter Boden des Kais war mehr sichtbar, so dicht drängten sich Menschen, um das Schiff zu verabschieden. Die wenigen unter ihnen, die Selene kannte – ihr Onkel, die Frau namens Lydia, Annette und Thomas –, waren von der namenlosen Masse längst verschluckt. Sie hatten versucht sie aufzuhalten. Fast hatte es Selene leidgetan, wie verzweifelt und vergeblich sie sich mühten.
Die Gangway, die sie hinaufgekommen waren, löste sich vom Leib des Schiffs, und in rasendem Tempo verbreiterte sich der Abstand. Drei Männer in den blauen Overalls der Heizer schlugen sich eine Schneise durch die Menge und versuchten das Geländer am Fuß der Gangway zu erfassen, doch der Offizier der White Star Line vertrat ihnen den Weg. Wer zu spät kam, den ließ RMS Titanic zurück. Die drei Männer wären die Stufen hinauf in leeren Raum gestiegen.
Auf der Heimfahrt aus Irland hatte Selene sich unbändig darauf gefreut, die Titanic wiederzusehen. Als sie sie an diesem Morgen zu sehen bekam, die gigantische Schöne, in deren Glas und Metall sich glitzernd die Sonne brach, die vier Schornsteine, von denen einer allein der Ästhetik diente, das strahlende Schwarz und Weiß, da war sie nichts weiter als ein Schiff und die Erregung um sie hohl und banal. Selene blickte nach rechts. Sie standen zwischen zwei Rettungsbooten an der Reling des Bootsdecks und sahen zurück aufs Land, das seine Konturen verlor. Aus der Traumreise war eine Flucht geworden, und das Einzige, was noch Bedeutung hatte, war die schmächtige, verhärmte Frau, die neben ihr stand. Chastity Weaver. Ihre Mutter.
»Ich lasse dich nicht hier«, hatte Selene zu ihr gesagt. Die Idee war ihr ganz plötzlich gekommen. »Ich nehme dich mit nach New York. Das Geld dafür treibe ich irgendwo auf.« Erst später war ihr aufgefallen, dass sie den Namen des Schiffs mit keinem Wort erwähnt hatte. Um New York ging es jetzt. Darum, von der Stadt, die sie Heimat, und den Menschen, die sie Familie genannt hatte, von allem Lügen und Täuschen fortzukommen.
Es war schwer gewesen, Chastity – ihre Mutter – zu überreden. Aber als sie begriff, dass Selene nicht ohne sie gehen wollte, trat in ihre stumpfen Augen ein Leuchten. »Wir müssen uns vor meiner Mutter hüten«, hatte sie beharrt. »Meine Mutter darf dir nichts tun.«
»Was soll mir Mildred denn tun?« Sie haben mir doch schon alles getan, dachte sie. Sie haben mein Leben mit einem Schlag vom Tisch gewischt.
»Mildred ist eine Mörderin«, sagte Chastity fest. »Deshalb bin ich fortgegangen – und wenn dein Vater mich nicht gerettet hätte, wäre ich gestorben. Was immer sie dir über deinen Vater erzählt haben, Selene, er war der beste Mensch auf der Welt.«
Sie hatten Selene nichts über ihren Vater erzählt. Er hatte nicht in ihr Bild von der makellosen Hoteliersfamilie gepasst, also hatten sie sich seiner entledigt und Chastity sein Kind geraubt.
»Ich habe Tag und Nacht geschrien. Ich habe gesagt, ich höre nicht auf, bis sie mir mein Kind wiedergeben, und dass mein Kind gestorben ist, glaube ich nicht. Also hat meine Mutter mich in die Anstalt gebracht. Ich war verrückt, weißt du? Ich konnte nur noch schreien.«
Selene fand, die ganze Welt war verrückt. Verrückt wie Thomas, der jeden Tag versucht hatte mit ihr zu sprechen und ihr zu erklären, er sei Annettes Cousin, der Sohn eines Niemands namens Hannes März. Als hätte irgendeine der Lappalien, die er vorbrachte, sie noch berührt. Sie wollte es hinter sich lassen, alles, auch RMS Titanic. Bei sich hatte sie den einzigen Menschen, der zu ihr gehörte. Die gestohlenen Jahre gab ihnen niemand zurück, aber vielleicht konnten sie in der Neuen Welt einen neuen Anfang machen.
Selene war sicher gewesen,
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