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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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sehen. Ich musste dir noch einmal nahe sein und mich daran freuen, dass es dich gibt. Ich gehe in New York von Bord und komme nicht zurück. Ich störe dich nie wieder auf, nur bitte versteh, dass ich nicht anders konnte, als diese paar Tage in deiner Nähe zu stehlen.«
    Hatte Harry je so viel gesprochen? Ergab das, was er gesagt hatte, irgendeinen Sinn? Ein Schrei ließ Selene herumfahren, ein hoher, spitzer, wie zerrissener Laut. Im Durchgang stand Chastity, die sich am Türstock festhalten musste, weil sie so sehr schwankte. »Charles«, stieß sie kraftlos heraus, »mein liebster Charles.« Dann stürzte sie vornüber auf die Knie.

    »Du musst ihr telegraphieren – die Titanic hat zwei Telegraphen an Bord. Verflucht noch mal, Esther, du musst etwas tun!«
    Dass die Frau, die sie schon minutenlang anschrie, tatsächlich in ihrem Wintergarten saß, konnte Esther nicht fassen. Als wäre keine Zeit verstrichen. Als könnten sie noch einmal ihre Gläser heben und darauf trinken, dass das Leben sie nicht trennte. So wie damals. Vor der Nacht im September. Vor Selene.
    »Hörst du mir überhaupt zu?«, blaffte Lydia. Sie hatte ein blau geschlagenes Auge, ihr Haar war eisgrau und ihr Gesicht zerfurcht wie das von einem alten Weib. Aber sie war so streitbar und unerbittlich wie eh und je, und sie saß neben Horatio, der sie mit glühenden Blicken bedachte wie eine Schönheit ohne Makel. Esther rechnete es den beiden an, dass sie jeden Tag kamen und versuchten sie zu Taten zu bewegen, aber sie wollte, dass sie gingen. Lydia hatte nie ein Kind gehabt, und Horatio hatte sich das seine verdient. Keiner von ihnen hatte ein Kind gestohlen – sie konnten Esther nicht verstehen. Nicht einmal Andrew konnte das, denn er hatte nicht gewollt, dass sie Selene stahl. »Wenn Gott uns kein Kind schenkt, will ich damit leben«, hatte er gesagt. »Das Kind deiner Schwester zu stehlen ist kein Weg. Ich habe dich. Dafür bin ich dankbar.«
    »Aber ich habe nichts«, hatte sie außer sich geschrien. »Kein Studium, kein Leben, kein Kind. Warum bin ich auf der Welt?«
    Dafür, dass er ihr erlaubt hatte, Selene zu stehlen, würde sie ihn lieben bis zum Tod. Ihr Leben mit Selene war glücklich gewesen. Andrew hatte keinen überschwenglichen Vater abgegeben, weil er kein überschwenglicher Mensch war, aber er hatte das kleine Mädchen in sein Herz geschlossen und ihm gegeben, was er konnte.
    »Esther«, rief Lydia, »sprich mit mir.«
    »Was soll ich denn sagen?«, fragte Esther.
    »Dass du um dein Kind kämpfst.«
    »Sie ist ja Chastitys Kind«, murmelte Esther und musste nach Luft schnappen, weil die Erkenntnis ihr den Atem raubte.
    »Was ihr mit Chastity getan habt, ist grausam, aber jetzt geht es um Selene«, entgegnete Lydia.
    »Mildred hat gesagt, es ist so das Beste«, hörte Esther sich monoton erwidern. »Mildred hat gesagt …«
    »Herrgott, ihr könnt doch nicht euer Leben lang für alles, was geschieht, Mildred verantwortlich machen!« Horatio sprang auf. Er war ein erstaunlich großer Mann, wenn er stand, und ein erstaunlich imposanter Mann, wenn er schrie. »Seid ihr Puppen, könnt ihr euch nicht regen, ohne dass Mildred an euren Strippen zieht? Du hättest nicht mitspielen müssen, als Mildred Chastity das Kind wegnahm, aber du hast mitgespielt. Du hast das Kind genommen, und jetzt schippert dieses Kind mutterseelenallein auf einem Irrsinnskahn auf dem Atlantik herum und hat alles verloren, was es besaß. Und was tut die Mutter des Kindes? Sitzt bei ihren mondbleichen Rosen, nickt mit dem Kopf und sagt: Mildred hat …«
    Nicht nur Esther, auch Lydia blickte sich verblüfft nach ihm um. Der junge Mann zu seiner Linken, Thomas Lenz, der eigentlich Thomas März hieß und Annettes Cousin war, klatschte leise Beifall.
    Horatio schoss zu ihm herum. »Dafür, dass ein Kerl eine Frau anpfeift, gebührt ihm kein Applaus«, bellte er.
    »Mit Verlaub, ich habe Ihr Pfeifen auf mich bezogen«, sagte Thomas März. »Weil ich ja auch hier sitze und mit dem Kopf nicke. Ich habe Selene im Stich gelassen. Ich hatte nicht den Mut, ihr zu sagen, dass ich nicht zufällig in Portsmouth war, sondern um herauszufinden, wer ich bin. Ich war besessen davon, die Familie meines Vaters aufzuspüren, nachdem mein Großvater nie ein Wort über ihn gesprochen hatte. Als ich erfuhr, dass seine Mutter ihn zurückgelassen hatte, um in England ihren Bruder zu finden, musste ich einfach hierher, um sie zu suchen. Und dann hatte ich endlich eine Spur, und

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