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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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    Chastity überlegte und blätterte in dem Buch, das sie auf den Knien heilt. Märchen der Gebrüder Grimm. Vom Deutschen kam sie offenbar nicht los. »Ich glaub, es war so wie in dieser Geschichte«, sagte sie einfältig, als wäre sie das Kind und Selene die Mutter. »Von der Goldmarie und der Pechmarie. Der eine, mein Vater, hatte eine schöne goldene Mutter und der andere, mein Onkel, eine grausige schwarze. Die schöne goldene haben alle geliebt, und die grausige schwarze haben alle gehasst. Davon werden Menschen böse, was? Davon, dass man sie hasst?«
    Selene wollte ins Freie, aufs Deck, wo ihr Blick sich in die Weite strecken konnte und die kalte Luft ihr den Kopf klärte. Nach den Zwischenstopps in Frankreich und Irland lag Europa jetzt hinter ihnen. Was sie schwarzblau und schillernd umfing, war der Atlantische Ozean. Ruhiger und gleichmäßiger als jeder Zug schlang das Schiff die Meilen in sich hinein. Sie nahmen die südliche Route, um den Labradorstrom zu meiden, der zu dieser Jahreszeit den Schiffen Eis in den Weg schickte. Selene konnte sich nicht hindern, solche Informationen aufzuschnappen – würde die Begeisterung für den Schiffsbau je wieder aufflammen, oder war ihr auch dieser Teil ihres Lebens verloren?
    Chastity, die laufen nicht gewohnt war, kam ihr schnaufend hinterher. »Wenn du allein sein willst, sag es nur. Ich will dir nicht zur Last fallen. Der Steward hat es gerade gesagt. Eine Tochter, die sich so rührend um ihre Mutter sorgt, sieht man selten. Und ich war doch nie eine Mutter, die sich rührend um ihre Tochter sorgte.«
    »Hör auf!«, rief Selene. »Der Steward soll sich an seiner eigenen Nase kratzen, und ich will einfach mit dir zusammen sein.«
    Sie hatte Chastity auf ihre kleine, verschüchterte Weise lächeln, aber noch nie strahlen sehen. Jetzt strahlte sie, obwohl sie kaum den Mund verzog. »Wenn ich mir ein Mädchen hätte ausdenken können, das meine Tochter ist, ich hätte mir dich ausgedacht. Ich war immer hässlich, aber du bist schön. Ich habe mit meiner Dummheit meine Mutter um den Verstand gebracht, aber du bist so unglaublich klug. Das hast du von Charles – Charles war schön und klug und freundlich, und du hast alles von ihm.«
    Es machte Selene verlegen, dass ihr keine Erwiderung einfiel. Wenn sie sich eine Frau hätte ausdenken können, die ihre Mutter war – schon der Versuch dazu scheiterte, weil ihr immer nur Esther einfiel, die sie ihr Leben lang für ihre Mutter gehalten hatte. Sie hakte sich bei Chastity ein. »Wollen wir uns heute zum Dinner so richtig ausstaffieren? Komm, gehen wir in unsere Kabine und machen zwei Schönheiten aus uns.«
    »Aber ich habe ja nichts Rechtes«, protestierte Chastity.
    Selene lachte. »Ich auch nicht«, sagte sie und zog sie mit sich fort.

    Konnte in einem Leben ein solcher Sturm niedergehen, dass man die Existenz eines Menschen schlichtweg vergaß? Dass man sich nicht fragte, wo er geblieben war, weil man im eigenen Schicksal gefangen und so weit von anderen entfernt war wie die Titanic von der Welt am Land? Selene war froh, sich etwas besser zu fühlen und in den stillen, sacht erleuchteten Leib des Schiffs zu tauchen, als ihnen einmal mehr der Steward den Weg vertrat. »Ah, die Damen Weaver, und wieder unzertrennlich – wie nett!«
    Selene ging schnurstracks weiter, aber Chastity, die nicht fassen konnte, dass Menschen freundlich zu ihr waren, blieb stehen und wechselte Worte mit ihm. So kam es, dass Selene ohne sie in den Gang zu ihrer Kabine einbog und sah, wie der Mann, dessen Existenz sie vergessen hatte, aus der Tür neben der ihren trat. Nicht zu glauben war, dass sie sich zuvor nicht begegnet waren, obgleich sie gewusst hatten, dass sie Kabinennachbarn sein würden. Der Mann, der seine Tür verschloss und herumfuhr, als er sie kommen hörte, war Harry Matthew.
    »Selene«, sagte er, und seine Züge schienen zu entgleisen. »Selene, Selene.«
    »Harry«, murmelte Selene.
    »Verzeih mir«, sagte er und hob die Hand, als hätte sie vor, ihn anzugreifen. »Ich hätte es viel früher kapieren müssen, schon, als ich in Belfast diesen Drang verspürte, dich zu schützen, aber bitte glaub mir, erst an der Rampe der Fähre ist mir klargeworden, wer du bist. Danach war ich entschlossen, nicht auf die Titanic zu gehen, ich wollte untertauchen und dich nie wieder behelligen. Aber dann, Selene, dann war ich dazu zu schwach. Es war, als würde ich mit Tauen auf dieses verdammte Schiff gezogen. Ich musste dich

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