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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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ihr Onkel würde ihr das Geld für Chastitys Passage geben, aber er hatte sie geradezu bekniet zu bleiben und mit ihrer Mutter zu sprechen.
    »Esther Ternan ist nicht meine Mutter«, hatte sie erwidert. Die Frau, Lydia, hatte ihn schließlich bewegt, ihr das Geld – und mehr, als sie brauchte – zu geben, weil sie fürchtete, sie könnte ihre Rückfahrkarte verkaufen. Selene hatte ohnehin vor, das zu tun, aber erst in New York, um Geld zum Leben aufzutreiben. Zu guter Letzt hatte er ihr noch die Adresse einer Mrs Phoebe Redknapp zugesteckt, die in New York leben und ihre Tante sein sollte. »Weiß ich eigentlich irgendetwas über meine Familie?«, hatte sie ihn angeherrscht.
    »Nicht viel, fürchte ich. Wir hätten Mildred nicht glauben dürfen.«
    Seine Reue nützte ihr nichts. Die Adresse der fremden Tante zerriss sie zu Fetzen und streute sie in die Wellen, die der Leib des Schiffs aufwarf. Gleich würden sie das Hafenbecken hinter sich haben, die Schlepper würden ihre Taue einholen und die Titanic ohne Halt in die Endlosigkeit entlassen. Geradezu trotzig schob Selene die Hand über Chastitys Hand auf der Reling. Wie gebannt starrte jene weiter auf das zum Schemen schrumpfende Land. Selene spürte die atemberaubende Leere, die seit Tagen in ihr herrschte, dort, wo ihr buntes, reiches, von Menschen bevölkertes Leben gewesen war. Welche Leere musste erst Chastity verspüren? Das Land, das dort verschwand – sie hatte es vor zwanzig Jahren zum letzten Mal gesehen. Die beiden Frauen, die Selene Mutter und Großmutter genannt hatte, hatten ihr alles genommen, selbst die Freiheit, an einem schönen Tag am Meer entlangzugehen.
    Der Schatten, der sich grau über das Deck warf, musste der New York gehören, einem weiteren Amerikadampfer, der vorn an der Ausfahrt vor Anker lag, weil ein Streik der Kohlearbeiter ihn an der Abreise hinderte. Selene hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als ein massiver Ruck das Schiff erschütterte. Sie wurde zur Seite geschleudert, und mit einem Aufschrei stürzte Chastity über sie. Übereinander fielen sie zu Boden, Selene stieß sich den Kopf und verlor für Sekunden das Bewusstsein. Als sie zu sich kam, stand ein Steward vor ihnen und streckte ihnen lächelnd seine Hand hin. »Haben Sie sich verletzt, meine Damen? Soll ich den Arzt verständigen?« Eilig rappelte Selene sich auf. Mit Hilfe des Stewards halfen sie Chastity hoch, die kreidebleich war und zitterte. »Ich bedaure, dass Sie sich erschreckt haben«, sagte der Steward mit einer kleinen Verbeugung. »Ich versichere Ihnen, es ist nichts geschehen. Der Rückstoß von unserer Titanic ist so kräftig, dass sie die New York von den Ankerseilen gerissen hat. Um ein Haar hätte der Sog sie gegen uns geworfen, aber unsere Schlepper haben blitzschnell reagiert und uns nach backbord gezerrt. Sie brauchen keine Angst zu haben, bei uns sind Sie sicher und geborgen wie ein Säugling. Unsere Titanic ist doch unsinkbar.«
    Aufmunternd lachte er, aber Chastity zitterte weiter. »Unsinkbar? Haben wir das nicht alle einmal von unserem Leben geglaubt?«
    Ohne darauf einzugehen, bot der Steward ihnen Tee zur Entschädigung an, aber Selene lehnte ab und bat ihn, sie allein zu lassen. Wie auf ein Zeichen wandten sie sich beide wieder der Reling zu. Inzwischen hatten die Schlepper ihre Taue gelöst, die Titanic nahm Fahrt auf und ließ das Hafenbecken hinter sich.
    In ihrem Rücken hörte Selene Menschen miteinander lachen, sich um Liegestühle streiten, ein Kartenspiel beginnen. Dieses Deck, das Passagieren der zweiten Klasse zur Verfügung stand, bot an Platz und Luxus, was andere Schiffe selbst in der ersten Klasse nicht aufzubieten hatten. Um es so geräumig zu machen, war die Zahl der Rettungsboote verringert worden. Zwischen Kübeln mit Palmen standen Tische für Getränke und Gebäck, auf den Sonnenliegen waren Decken ausgebreitet, und zwischen den Reisenden, die die Sonne des Nachmittags genossen, kredenzten Stewards Erfrischungen.
    Plötzlich kam das Schiff Selene vor wie das Hotel ihrer Großmutter, das verfluchte Mount Othrys, dem das Leben von Menschen geopfert worden war wie in Annettes Aztekentempeln. Es war ein schwimmendes Luftschloss, ein Versprechen, das niemand zu halten gedachte, eine Lüge wie die, auf die ihre Familie gebaut war. Die Rede des verstorbenen Königs über den Krieg aus Deutschland fiel ihr ein. Vielleicht hatte er recht, vielleicht würde ein gewaltiger Krieg kommen müssen, um all die Blasen aus Lügen zum

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