Die Mondrose
die Menge, aus der Hände nach ihm griffen und Stimmen nach ihm riefen, und sprach zu der Traube junger Männer, die bei der Kabine stand. Nachdem diese sein Anliegen begriffen hatten, kehrte er zu ihr zurück. »Es ist in Ordnung. Für eine halbe Stunde übernehmen meine Studenten meinen Dienst. Gehen wir in den Garten?«
Was er Garten nannte, war ein trostloses Stück Rasen, durch das sich ein gemauerter Gang bis zum nächsten Gebäude zog. »Was sagen Sie dazu?« In seiner Stimme regte sich ein Anflug von Stolz. »Dieses Spital ist vor zwei Jahren von Grund auf umgestaltet worden. In der neuen Pavillonbauweise, wie Florence Nightingale sie empfiehlt. Die Krankensäle können so besser belüftet werden, und Krankheiten werden nicht so rasend schnell von einem zum anderen geschleppt.«
Mildred sah zwei betrunkene Männer aus einem der Häuser torkeln. Der eine hustete, als hätte sein letztes Stündlein geschlagen, krümmte sich und spuckte Blut ins Gras. Der andere hieb ihm auf den Rücken, bis der Husten stockte, dann setzte er ihm eine braune Flasche an die Lippen und schüttete Flüssigkeit in seinen Schlund. Hernach gönnte er sich selbst einen Schluck.
»Es ist ihnen nicht abzugewöhnen«, bemerkte Hyperion. »Sie sind überzeugt, was dem einen hilft, kann dem anderen nicht schaden, und sobald sie im Dispensarium ihre Medikamente erhalten, tauschen sie sie untereinander aus. Ich habe schon Menschen daran sterben sehen.«
Der betrunkene Kranke begann wieder zu husten. Mildred wandte sich ab, schlug einen anderen Weg ein.
Hyperion folgte ihr. »Es tut mir leid. Sie sind gewiss nicht hier, um über das Spital zu sprechen.«
»Ich finde es ekelhaft«, fuhr sie ihn an. »Es passt nicht zu Ihnen. Ist das Geld, das es einbringt, den Einsatz wert? Der Holzhandel blüht doch. In ganz Portsmouth wird gebaut.«
»Geld?« Unfroh lachte er auf. »Sie glauben, diese Arbeit hier bringt irgendwem Geld?«
»Ja was denn sonst?«
Er zuckte mit den Schultern. »Keine schlechte Frage. Junge Leute tun es, weil sie sich davon Verbindungen versprechen, reiche Patienten, die sie später privat behandeln können. Aber solche Patienten kommen hier nicht her. Sie rufen sich den Arzt nach Hause, und wer seine Zeit dem Spital schenkt, bekommt sie nie zu Gesicht. Andere tun es, weil sie mit ein wenig Wohltätigkeit ihrem Ruf aufhelfen wollen, und ein paar Idealisten wie mein Doktorvater tun es, weil sie hoffen, es bringe sie in ihrer Forschung weiter.«
»Und warum tun Sie es?«
Er blieb stehen und sah ihr ins Gesicht. »Ich weiß es nicht, Mildred. Irgendwann glaubte ich es zu wissen, aber es ist mir entfallen, und ich frage mich schon lange nichts mehr. Ich bin nur noch verzweifelt über die Scharen, die mir wie Fliegen wegsterben, und zuweilen selig über einen Einzelnen, der am Leben bleibt und sich in der nächsten Wirtschaft im Absinth ersäuft.«
Mildred wollte ihm den Kopf zurechtsetzen. Sie wollte hart sein, doch all die Härte, die ihr Leben lang in ihr gewachsen war und nur vor Daphne haltgemacht hatte, fiel von ihr ab. Nichts erschien ihr so schützenswert wie dieser erschöpfte, einsame Mann. Sie legte die Arme um ihn. Im nächsten Atemzug berührten ihre Lippen die seinen. Es war das, was sie gewollt hatte, es löschte für kurze Zeit alles andere aus.
Er löste sich als Erster, ihr Gesicht noch in seinen Händen und das seine nah. Sie liebte jeden Zug und prägte ihn sich ein. »Mildred«, sagte er leise. Ihr Name war das schönste Wort der Welt.
Sie hatte keinen Menschen als Daphne je bei Kosenamen gerufen, doch sein Name kam nicht über ihre Lippen. Sie wollte ihn Liebling nennen, mein Liebling, und weil sie es nicht konnte, schwieg sie.
»Ich weiß, ich habe aus allem ein furchtbares Durcheinander gemacht«, sprudelte es aus ihm heraus. »Durch mein ewiges Verschieben wird meine Verlobung gefeiert, wenn Prinz Edward den Pier eröffnet, und die Hälfte der Gäste wird nicht kommen. Nichts ist fertig, und Sie habe ich sträflich vernachlässigt, aber ich mache es wett. Morgen früh schicke ich jemanden, der sich um Ihre Garderobe kümmert, und ich lasse Ihnen auch endlich ein Zimmer richten.« Seine Augen glänzten, und sein Mund verzog sich zu dem traurigen Lächeln, das sie liebte. »Und das hier müssen wir lassen, Mildred. Wir müssen es vergessen, ja?«
Im Leben nicht, begehrte Mildred auf. Sie grub ihm die Finger in die Schultern und küsste ihn noch einmal auf den Mund. Es schickte sich nicht, sie
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