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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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und wünschte sich, sein Gesicht zu berühren. Wenn sie sich nicht nach Hyperion sehnte, sehnte sie sich nach Daphne. Seit die Jüngere auf der Welt war, waren die Schwestern nie so lange getrennt gewesen.
    Daphnes Ankunft war mehrmals angekündigt und wieder verschoben worden. Warum, wusste Mildred nicht, und Sarah gab vor, es auch nicht zu wissen. Sie wollte Hyperion fragen, aber der ließ sich kaum je blicken, und wenn, dann wirkte er abgekämpft und war schon wieder auf dem Sprung. Als sie ihn einmal in der Halle abfing, nahm er sie bei den Schultern und sah ihr mit derselben Sehnsucht, die auch sie empfand, ins Gesicht. »Ich muss Sie schon wieder um Verzeihung bitten, Mildred. Ich wollte längst mit der Vorbereitung fertig sein, aber alles zieht sich endlos hin, und ich stelle mich auch nicht sonderlich geschickt an.«
    Was musste denn für Daphne noch vorbereitet werden, und weshalb übertrug er diese Arbeiten nicht ihr? Bevor sie fragen konnte, zog er sie an sich. »Ich verspreche Ihnen, ehe im Juni der Pier eröffnet wird, ist Ihre Schwester hier, und wir feiern Verlobung.«
    Hätte er sie geküsst, sie hätte es ihm gewährt, aber er löste sich von ihr, sandte ihr sein schönes, trauriges Lächeln und ging.
    Bis zur Eröffnung des Clarence Piers, zu der Kronprinz Edward nach Portsmouth kommen sollte, waren es nur noch zwei Wochen. Am nächsten Morgen beschloss Mildred, nach ihrem Ritt nicht wieder im Haus herumzusitzen, sondern von dem Geld, das sich auf ihrem Nachtkasten häufte, etwas für Daphne zu kaufen. Wenn Hyperion ihr vor lauter Rücksicht nichts zu tun gab, musste sie eben auf eigene Faust ein Willkommen für ihre Schwester richten.
    Während sie die sonnenbeschienene Allee hinunterspazierte, überlegte sie, was sie kaufen sollte. Ein Kleid. Daphne brauchte in jedem Fall ein neues Kleid. Ihr Blick glitt an ihrer Dienstbotenuniform hinunter, die sie trug, weil sie besser war als die Kleider aus Whitechapel. In Kürze würde Hyperion für ihre Garderobe sorgen, doch sie konnte schlecht von ihm erwarten, dass er auch Daphne ausstattete. Das würde sie in die Hand nehmen, und zwar so, dass Daphne sich nicht schämen musste. Wie aber kaufte man in Hyperions Kreisen Kleider? Wohl kaum vom Lumpenkarren wie in der Petticoat Lane. Sie wollte nach Portsmouth, in die Hauptstraße beim Bahnhof, doch in den winkeligen Gassen von Southsea verlief sie sich.
    Vor einem hohen weißen Bau blieb sie stehen. Das Haus war nicht so elegant wie Mount Othrys, aber es besaß ebenfalls ein Säulenportal, vor das ein Diener in Uniform einen Palmenkübel wuchtete. »He, Süße, was gibt’s denn zu glotzen? Noch nie einen hübschen Kerl bei der Arbeit gesehen?«
    Der Kerl war alles andere als hübsch, er war vierschrötig und grob, und außerdem sah Mildred das Haus an, nicht ihn. Grandhotel Victoriana verkündete das Dach des Portals. Der Vierschrötige lief hinein, um einen zweiten Kübel hinauszuschleppen. Als er ihn abgestellt hatte, sandte er ihr ein anzügliches Zwinkern.
    Seit sie auf Mount Othrys wohnte, war Mildred nicht oft unterwegs gewesen, aber dass die Hotels sich wie Pilze vermehrten, war ihr aufgefallen. Im Fenster des Grandhotel Victoriana hing ein Schild mit der Aufschrift »Ausgebucht«, dabei war es noch nicht einmal Juni und der Clarence Pier noch nicht eröffnet. Eine weißgekleidete Schönheit kam eben die Stufen hinunter. Ihr Kleid wirkte zart wie von Hand gesponnen, und auf ihrem kunstvoll frisierten Haar saß ein Sommerhut mit breiter Krempe, die üppig mit Seidenschleifen geschmückt war. Zu feinem Blondhaar musste er noch besser aussehen als zu den schweren Locken der Dame. Mildred wusste sofort: Diesen Hut musste sie für Daphne kaufen.
    Im Weitergehen nahm sie die leichte Brise und den Duft wahr, die die Nähe des Meers verrieten. Es war ihre Kraftquelle. Sobald sie sich der blaugrauen Wasserfläche näherte, spürte sie, wie jeder Muskel in ihrem Leib erstarkte. Das Wiesengelände zwischen Stadt und Küste war nicht wiederzuerkennen. Durch den Graben, den die Navvies dort aufgerissen hatten, blitzten die frisch verlegten Schienen, und die Luft summte vor Geschäftigkeit. Nahe beim Pier wurden bunte Buden hochgezogen, weiter vorn hämmerten Arbeiter ein Podium zusammen. Gut für uns, durchfuhr es Mildred beim Anblick des Holzes, das auf Pferdewagen angefahren wurde. So viel hatte sie inzwischen begriffen, aus dem Holzhandel, den Hector Weaver leitete, gehörte die Hälfte der Einnahmen dem

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