Die Mondrose
Schlimmste war, dass er in ihrem vor Bosheit triefenden Ton seinen eigenen erkannte, dass er in ihren verlebten Zügen und dem einstmals schwarzen Haar sich selbst sah. Leute behaupteten, sie sei schön gewesen, damals, als ihr Mann sich so aufsehenerregend von ihr scheiden ließ, aber Hector wusste, sie war von jeher hässlich wie die Sünde. Der rote Samt ihres Kleides war so schäbig wie sie selbst. »Es ist nicht Abend«, sagte Hector. »Für Menschen mit Anstand ist es längst Nacht.«
»Ach, der Anstand«, erwiderte sie und legte den Kopf mit dem frivolen Hütchen schräg. »Den Anstand, mein Liebchen, muss man sich ja leisten können.«
»Nenn mich nicht so«, fuhr er auf. »Sag, was du willst, und geh.«
»Soll ich dich nicht so nennen? Aber so hab ich dich dein Leben lang genannt, ob in Worten oder in Gedanken. Es ist das Herz einer Mutter, das da spricht.«
Ohnmächtig vor Wut ballte Hector die Fäuste. So schmal ist der Grat, so schmal. Jetzt nur die Hände um diesen fetten Hals gelegt, und all das Quälen hätte ein Ende.
»Du ekelst dich vor deiner Mutter, hab ich recht?«
Er stierte zu Boden, auf den Kegel, den das Licht der Lampe bildete.
»Das schmerzt, mein Bübchen. Weißt du, wie das schmerzt? Hast ja selbst zwei Kinder, die werden nie auf meinen Knien reiten, und wenn sie ihrer Großmutter in der Stadt begegnen, rümpfen sie die Nasen. Und wofür wird deine Mutter so hart bestraft? Dafür, dass sie jung war und aus Liebe einen Fehler beging, oder dafür, dass die Titanengöttin Amelia Ward bereitstand und alles war, was Polly Pierson nie hätte sein können?«
Der Lichtkegel tanzte. Hector hörte seine Zähne knirschen.
»Nun gut«, sagte Polly Pierson. »Liebe lässt sich nicht zwingen, auch wenn man annimmt, die Liebe des Kindes zur Mutter sei angeboren. Da man mir jedoch alle Rechte einer Mutter geraubt hat, bin ich der Ansicht, eine kleine Entschädigung sei angebracht. Es wünscht ja kein Sohn, dass seine Mutter hungert.«
Sie sah nicht aus, als würde sie hungern. Sie war ein feistes Weibsbild, das den Hals nicht vollkriegen konnte, und natürlich würde sie wiederkommen, immer dann, wenn er glaubte, er sei sie endgültig los. »Lass von meinen Kindern die Finger«, krächzte er.
»Dass ich von meinen Enkeln die Finger lasse, willst du? Und meinst du nicht, wenn du von einer Großmutter solche Opfer forderst, sollte es dir ein Trostpflaster wert sein?«
Er gab es ihr. Er gab es ihr jedes Mal. Es war nicht das Geld, um das es ihm weh tat, sondern das Gefühl, erpressbar zu sein. Er wartete, bis sie hinter der Gartenpforte verschwunden war, dann stürmte er in sein Herrenzimmer und verriegelte hinter sich die Tür. Den kostbaren Whisky aus Talisk kippte er hinunter wie seine Mutter ihren billigen Fusel. Jemand würde dafür bezahlen müssen. Der Teutone! Der Wunsch, dem Deutschen ein Leid zuzufügen, war so übermächtig, dass er augenblicklich nach Milton’s Court eilen wollte, wo der Mann noch immer seine Schlafstätte hatte. Sobald er jedoch an diese Schlafstätte dachte, tauchte ein anderer Wunsch auf, und der brachte ihn um den Verstand.
Anderntags erwachte er mit höllischem Kopfweh, und aus den Blicken, mit denen seine Frau ihn bedachte, schloss er, dass sein Zustand in der Nacht nicht unentdeckt geblieben war. Eine Stunde lang sah er dem Unterricht seines Sohnes zu, geriet über die Trägheit des Kindes in Zorn und wies den Erzieher an, ihm eine Tracht Prügel von zwanzig Hieben zu verpassen. Vor Tagen hatte er auf der Promenade den bildhübschen Sohn seines Bruders gesehen, der an der Hand seiner Mutter bereits Schritte wagte. Und hinter beiden war der Bruder gegangen, auf den Zügen eine Seligkeit, wie Hector sie nie empfunden hatte. Hatte er nicht sein Leben lang danebengestanden, während der Bruder alle Liebe und alles Glück einsackte? Und jetzt hatte er auch noch einen Traum von Sohn, während Hector mit einem haarlosen Kretin geschlagen war. »Sie geben ihm fünfundzwanzig«, korrigierte er sich vor dem Erzieher. »Ich will diesen Stock schnalzen hören, und zwar täglich, sonst sind Sie Ihre Stellung los.«
Hector schluckte ein Mittel gegen Kopfweh. Als keine Linderung eintrat, rief er den Kutscher und ließ sich zur Gasanstalt fahren.
Er hatte dem Deutschen einen Aufstieg ermöglicht, der für einen Navvy vergleichslos war. Inzwischen hatte März sein eigenes Büro und verwaltete die Leitungen des Abschnitts Southsea. Sprosse um Sprosse hatte Hector ihn
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