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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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erklimmen lassen, doch dabei darauf geachtet, dass er sich nie in Sicherheit wiegte, sondern immer wieder um Schritte zurückfiel und weniger Geld erhielt als andere in seiner Stellung. In Deutschland hatte irgendein Windhund einen Arbeiterverein gegründet und kämpfte für die Forderungen des Aufwieglers Marx, der ebenfalls aus Deutschland stammte. März aber begehrte nie auf, sondern schuftete von früh bis spät und beugte sich jedem Befehl. Nur mit einem trieb er Hector zum Wahnsinn, und das war seine Unnahbarkeit. Ob Hector ihn demütigte oder sich kumpelhaft gab, der Deutsche sagte nicht mehr als danke, bitte und sehr wohl und blieb ein verschlossenes Buch.
    Soweit Hector wusste, hatte er kein Liebchen, ja nicht einmal Kameraden, mit denen er ab und an über die Stränge schlug. Er trank nicht, spielte nicht und trug sein Geld nicht zu Huren. Wofür er es ausgab, war Hector ein Rätsel. Sein Zimmer bot nicht den geringsten Komfort, seine Kleidung war sauber, doch von billiger Machart, und auch beim Essen versagte er sich allen Luxus. Er musste etwas verschweigen, ein geheimes Laster, das Geld verschlang, und auf diese Schliche wollte Hector ihm kommen.
    Das Büro, das er dem Deutschen zugeteilt hatte, grenzte an ein anderes, das er verschlossen hielt. Als er das Gebäude am Südrand von Southsea gemietet hatte, war ihm aufgefallen, dass die Räume einst zusammengehört hatten und durch eine dünne Wand getrennt worden waren. Es erforderte wenig Mühe, in die Wand einen Spalt zu schlagen und die Tapete darüber zu richten. Hector sagte sich, er müsse zu solchen Mitteln greifen, schließlich bleibe ein Deutscher ein Deutscher, und wenn er keinen Arbeiterverein in seiner Gasanstalt wollte, hielt er den Mann besser unter Kontrolle. In dem Raum gab es nicht mehr als einen Spind und einen Lehnstuhl. Oft saß er stundenlang in dem Lehnstuhl und hörte zu, wie die Stimme des Deutschen in der Leere hallte.
    Bisher hatte er allerdings nie etwas von Interesse belauscht. März bediente Kunden zuvorkommend, schloss kluge Geschäfte ab und empfing niemanden, von dem sein Brotherr nichts wusste. An diesem Morgen hatte Hector jedoch kaum auf seinem Horchposten Platz genommen, als er hörte, wie die Tür des Nebenzimmers aufflog. »Victor!« Hector kannte keinen Menschen, schon gar keine Frau, die den Deutschen beim Vornamen nannte.
    Aber die Frau, die rufend ins Zimmer gestürmt war, kannte er.
    »Du musst mir helfen, Victor.«
    »Mildred.« Der Ton, in dem der Deutsche das Wort aussprach, verriet Hector alles. Mit dem, was darin schwang – Sehnsucht, Leidenschaft, Einsamkeit –, kannte er sich aus. Der Deutsche bewegte sich leise wie ein Raubtier, aber Hector wusste dennoch, dass er um den Schreibtisch herum auf seine Besucherin zugegangen war. »Geht es dir gut?«
    »Das tut nichts zur Sache. Hast du gehört, was ich gesagt habe?«
    »Ja.«
    »Und hilfst du mir?«
    »Mildred«, erwiderte der Deutsche, »ich habe dir gesagt, ich helfe dir, wann immer du mich brauchst.«
    Einen Augenblick lang hörte Hector nichts als ihrer beider Atem. Warum war er nicht von selbst darauf gekommen? Ihm war, als sähe er sie vor sich, den schönen, starken Leib des Mannes und den schönen, starken Leib der Frau, beide berstend vor Kraft und zum Leben gemacht. Traten sie aufeinander zu, streckten sie die Arme aus und drängten sich aneinander, und das alles in seinem Büro, in der Arbeitszeit, die er bezahlte? Seine Hände fuhren an seinen Hals und lockerten den Kragen, ehe er erstickte.
    Papier knisterte. »Ich brauche Geld«, sagte Mildred.
    »Geld«, wiederholte März, als wäre er nicht sicher, was mit diesem Wort gemeint sei.
    »Hier, lies.«
    »Was ist das?«
    »Eine Rechnung für Lebensmittel. Die Lieferung steht vor meinem Haus, doch ehe ich die Rechnung nicht begleiche, gibt der Kerl sie nicht frei. Später kommen noch andere, der Metzger und das Mädchen von der Schneiderei. Ich habe alles überschlagen, und das ist die Summe, die ich brauche. Jetzt sofort. Obwohl die Nachbarn sicher längst glotzen.«
    Vermutlich studierte März das Papier und versuchte seiner Verwirrung Herr zu werden. »Aber wozu brauchst du denn solche Mengen?«, fragte er endlich. »Ich kenne Rechnungen für Mount Olymp. Dort macht das, was für die Woche bestellt wird, kaum die Hälfte aus.«
    »Für uns bestelle ich schon lange keinen solchen Luxus mehr«, versetzte Mildred bitter.
    »Für wen ist es dann? Was tust du mit all diesen Dingen?«
    »Ich tue,

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