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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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es, als hätten ihre Wünsche ihre Kraft verloren.
    Als sie die Treppe hinunterstieg, sah sie Daphne, die mit dem Kind aus der Küche hinaufkam und im Gehen mit Sarah sprach. Sie trug einen Picknickkorb am Arm und wollte wie so oft mit dem Jungen zum Strand. Aus den Zimmertüren fiel Spätsommersonne in die Halle, und das Kind und Daphne, beide in hellen Kleidern, sahen aus wie vergoldet. Am Anfang des Sommers hatte Daphne sie häufig gefragt, ob sie mitkommen wolle, aber sie hatte immer zu tun gehabt, und irgendwann hatte Daphne aufgehört zu fragen.
    »Louis lässt Ihnen für die Teekuchen danken«, rief Daphne hinunter zu Sarah. »Ich muss aufpassen, dass er sie nicht alle allein verdrückt und Bauchweh bekommt.«
    »Von meinen Teekuchen bekommt unser Liebling kein Bauchweh«, entgegnete Sarah, »nur runde rote Wangen.«
    Das Kind, das für sein Alter erstaunlich beredt war, sagte etwas, das nur seine Mutter verstand. Daphne lachte, beugte sich hinunter und küsste es auf den Kopf. Mildreds Blick saugte sich an den beiden Händen fest, der Erwachsenenhand ihrer Schwester und der kleinen des Kindes, die sich vertrauensvoll an der größeren festhielt, derweil es in seine Welt hinaushüpfte, frei von Angst, von der Hand seiner Mutter beschützt.
    Wie konnte Daphne einen Menschen beschützen, wie konnte dieses winzige Geschöpf sich auf Daphne verlassen, die doch selbst ein Kind war und zu schwach, um einen Sturm zu überstehen?
    Das Kind zerrte, bis Daphne den Korb abstellte und erlaubte, dass der Junge sich darüberbeugte. Der Henkel war mit blauen Rosen umwunden, die Daphne liebte und im Garten schnitt. Louis riss alles beiseite, langte in den Korb und förderte einen roten Apfel zutage, den Sarah für ihn poliert hatte. Er besaß erst wenige Zähne, mehr als drei kleine Bissen würde er nicht schaffen und die Frucht dann liegen lassen. Und statt ihn zu tadeln, würden sie alle lachen, weil dem Goldkind kein Mensch etwas übelnahm.
    Mildred hatte den Jungen hassen wollen. Dieses Geschöpf, um das sie alle ein Wesen machten, als hätte es vor ihm auf der Welt keine Bälger gegeben, war schuld daran, dass Daphne beinahe gestorben war. Mildred hatte alles tun wollen, nur nicht den Jungen lieben. Jeder liebte ihn ja und betrug sich wie ein gackerndes Huhn, sobald er ihn sah. Selbst die tumbe Priscilla und die Teufelin Nell. Und der Junge liebte sie alle, er jauchzte, sobald er die gehässige Alte erblickte oder den Säufer, der die Kohlen brachte, oder den stinkenden Fischhändler. Oder Mildred.
    Mit gerade neun Monaten hatte er laufen gelernt und stand seither nicht mehr still. Eines Tages hatte Mildred im Garten Geschirr abgeräumt, und Daphne war vom Strand gekommen, da hatte das Kind sie entdeckt und sich von der Hand seiner Mutter losgerissen, um mit trommelnden Schrittchen auf sie zuzustürmen. Dabei stieß er Glückslaute aus wie eine kleine Taube. Man tat es ganz von allein – ging in die Hocke und breitete die Arme aus, fing den kleinen, vor Leben bebenden Körper an seinem eigenen, rieb die flaumweiche Wange und vernahm die Stimme einer Erinnerung, die man nicht beim Namen kannte.
    Louis hielt den Apfel, in den er seine Perlenzähnchen geschlagen hatte, Daphne hin. »Kleine Mutter! Süß!«
    Daphne kniete nieder. »Wenn du es willst, mein Sonnenschein.« Behutsam nahm sie ihm den Apfel ab und biss hinein. »Danke, ach danke. Das ist ganz köstlich.«
    Gemeinsam wickelten die vier Hände den Apfel in ein Tuch und legten ihn in den Korb. Daphne steckte eine der blauen Rosen, die sie Mondrosen nannte, mit Louis’ Hilfe an ihr Kleid, dann stand sie auf und nahm das Kind bei der Hand. »Auf Wiedersehen, Sarah! Wir bringen Ihnen eine Muschel mit.«
    Ehe die beiden die Tür erreichten, trat Mildred die letzten Stufen hinunter. »Daphne«, rief sie und leiser: »Mein Sperling.«
    Der kleine Junge jauchzte.
    »Oh, Mildred, guten Morgen«, stammelte Daphne, als hätte Mildred sie bei etwas Verbotenem ertappt.
    »Ich dachte, ich könnte mit euch zum Strand kommen. Es ist nicht mehr so viel Arbeit, jetzt, wo die Gäste abreisen, und ein paar Stunden am Meer bekämen mir nicht schlecht.«
    Bildete sie es sich ein oder rückten die beiden enger zusammen? Wenn Mildred von Kindern geträumt hatte, so hatte sie immer Töchter gesehen, blonde Mädchen an Klavieren. Jetzt aber, während sie Louis ansah, begriff sie, dass sie ein solches Kind hätte haben sollen, einen goldblonden Sohn, der einmal in die Welt hinausgehen und

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