Die Mondrose
darin schwang, war Mildred fremd.
»Bitte komm nach oben, Mildred«, sagte Daphne, als Mildred ihr keine Antwort gab. Weshalb nannte sie sie nicht Milly? Weshalb sprach sie mit einer Bestimmtheit zu ihr, die sie nicht einmal bei den Dienstboten an den Tag legte? Mildred trottete die Stufen hinauf, so langsam, als würde sie eine Last schleppen. Noch ehe sie den Absatz erreicht hatte, drehte Daphne sich um und ging in eines der kleinen Teezimmer, das über einen entzückenden Erker mit Blick über den jetzt kahlen Garten verfügte. Wie so oft ertappte sich Mildred bei dem Gedanken, wie hübsch sich dieser Raum in einer Gästesuite ausmachen würde. Der Charme, der das Haupthaus auszeichnete, ließe sich im Altenteil nie erreichen, und auch das Cathedral und sogar das Victoriana konnten damit nicht aufwarten.
»Bitte setz dich«, sagte Daphne.
Mildred erschrak und blickte auf. Im Licht der Gaslampe sah sie, dass ihre Schwester geweint hatte. Jetzt packte die eisige Angst doch zu und erschien Mildred lähmender als je zuvor. Sie setzte sich in einen Sessel, ohne dass Daphne sie aus den Augen ließ.
Die Schwester blieb stehen und lehnte sich neben dem Fenster, vor dem der blasse Wintertag sich schlafen legte, an die Wand. Es hätte ein behaglicher Abend werden können, mit einem Feuer, das im Kamin hoch prasselte, und einem cremigen Sherry aus zerbrechlichen Gläsern. Aber es würde kein solcher Abend werden. Jäh begriff Mildred, dass es einen solchen Abend zwischen ihnen nie mehr geben würde.
»Ich will nur eines wissen«, sagte Daphne. »Ist es wahr?«
»Ist was wahr?« Sie konnte ja nicht das Schlimmste meinen, es war unmöglich, dass sie davon wusste.
»Hast du ein Verhältnis mit meinem Mann?«
Mildreds Herz begann wie der Schlegel einer Pauke zu hämmern. Wer hatte geredet? Der verfluchte Victor? Er musste es ja gewesen sein, da sonst niemand ihr Geheimnis kannte – nur Hyperion, von dem sie immer befürchtet hatte, dass er eines Tages schwach werden und mit allem herausplatzen würde, aber Hyperion war schon seit zehn Tagen in London. Sie würde Victor zur Rechenschaft ziehen, wenn sich herausstellte, dass er sie verraten hatte. Sie würde ihn in einer Weise bestrafen, die er nie vergaß.
»Ich habe dich etwas gefragt, Mildred. Hast du ein Verhältnis mit meinem Mann?«
»Das ist doch Unsinn«, murmelte Mildred gegen die tonlose Stimme an. In den schwärzesten Nächten, in denen sie keinen Schlaf gefunden hatte, war ihr der Gedanke zuweilen in den Sinn gekommen: Was tue ich, wenn Daphne mir je diese Frage stellt? Ich streite es ab, hatte sie sich gesagt. Daphne vertraute ihr, sie hatte ihr solange sie lebte jede Wahrheit und jede Lüge geglaubt. Hyperion liebt dich, hatte sie ihr sagen wollen, und: Für mich gibt es keine Männer. Für mich gibt es immer nur dich.
»Ist es Unsinn?«, fragte die gespenstisch bleiche Daphne und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ist es wirklich Unsinn, Mildred?«
Jetzt mussten die vorbereiteten Sätze kommen. Mildred räusperte sich und schloss die Augen. Sie wollte wie so oft die Bilder der kleinen Daphne sehen, die sie auf schwachen Beinchen laufen gelehrt, an deren Bett sie gewacht und die sie mit all ihrer Liebe ins Leben zurückgepflegt hatte. Stattdessen sah sie den Mann in ihren Armen. Hyperion. Die schweißnass schimmernde goldene Haut der Schultern, den schlanken Hals, an dem die Adern heraustraten, wenn er sich über sie beugte, das Gesicht mit den Regenaugen, aus denen sprach, wie sehr er sich nach ihr verzehrte. Es ist ja kein Verhältnis, keine billige Liebschaft, durchfuhr es sie. Ich liebe ihn. Ich habe ihn lange vor dir geliebt, und nicht ich habe ihn dir weggenommen, sondern du ihn mir. Erst als Daphne aufschrie, bemerkte sie, dass sie die letzten Worte laut ausgesprochen hatte.
»Ist das dein Ernst?«, flüsterte ihre Schwester und schlug beide Hände vor den Mund. Ihre Augen waren vor Schreck geweitet.
Mildred sprang auf. Es war einer dieser Momente, in denen Daphne zusammenbrechen konnte, einer dieser Momente, in denen die Angst um Daphne sie überrollte. »Nicht doch!«, rief sie und wollte die Schwester am Arm packen. Hatte sie es nicht Hunderte von Malen getan? Sie befahl ihren Armen, sich nach Daphne zu strecken, aber diese versagten ihr den Dienst. »Ich habe immer verzichtet«, sagte sie und traute kaum ihren Ohren. »Auf alles. Für mich selbst habe ich nie etwas verlangt, alles nur für dich. Wie hätte ich denn an mich denken
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