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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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Rehe, zwei Löwen, zwei Zebras, und am Ende der Reihe, Hand in Hand, zwei Menschen.
    »Du weinst, kleine Mutter!« Sie spürte die Kinderhand auf der Wange, vernahm das erschrockene Stimmchen. »Bist du doch krank?«
    »Nein, kleiner Louis. Ich habe nur nachgedacht.«
    »An den Vater? Hast du an den Vater gedacht, der nicht da ist? Aber du hast doch mich!« Geradezu empört plusterte er sich auf und schmiegte sich an sie, wie um ihr für seine Gegenwart einen Beweis zu liefern.
    Wie oft hatte Daphne über solche Gesten lachen müssen, nicht, weil sie die Liebe des Kindes komisch fand, sondern weil sie sie so sehr berührte. Sie legte den Arm um ihn und hielt ihn so fest, wie ihre Erschöpfung es erlaubte. »Vermisst du den Vater, Louis?«
    Der Junge überlegte, runzelte die kleine Stirn und sagte nach einer Weile: »Nein, ich glaub nicht. Ich hab ja dich.«
    »Und Tante Mildred? Du hast sie ja seit Tagen nicht gesehen.«
    Louis schüttelte den Kopf. »Wenn der Vater und Tante Mildred nicht da sind, darf ich zu dir. Ich möcht immer bei dir sein, kleine Mutter.«
    Es schnitt ihr ins Herz. So tief und schmerzhaft, dass sie sich vornüberkrümmte. Drei Ansätze brauchte sie, ehe die Worte aus ihr herausfanden: »Aber wenn ich nun lange verreisen müsste, Louis, dann hättest du es doch beim Vater und Tante Mildred schön, nicht wahr?«
    »Nein!«, rief Louis wütend und klammerte sich an ihr fest. »Verreisen kann der Vater. Du darfst von mir nicht weg.«
    »Aber wenn es doch nun sein muss?«
    »Dann komm ich mit!«, rief er aus. Ob der Freude über seinen Einfall verflog seine Wut, und strahlend blickte er zu ihr auf.
    Es schnürte Daphne die Kehle zu, auf einmal erschien ihr ihre Brust zu eng zum Atmen. »Das geht nicht, mein Herz«, stieß sie hervor. »Die kleine Mutter muss allein gehen.«
    Unbeirrt schüttelte er den Kopf und verkündete: »Der kleine Louis kommt mit!«
    »Aber die Reise ist weit, mein Herz. Zu weit für einen kleinen Jungen.«
    »Dann auch zu weit für eine kleine Mutter«, erwiderte er triumphierend. Mit einer herrischen Handbewegung wischte er alle aufgereihten Tiere von der Rampe hinunter und stellte die beiden Menschenfiguren an deren Fuß. Stolz wies er darauf. »Da, schau! Der kleine Louis und die kleine Mutter verreisen.«
    Es tat so weh, dass ihr schwarz vor Augen wurde. Er war doch ihr Kind, das schönste und begabteste, das je geboren worden war, er musste doch glücklich sein und in eine strahlende Zukunft gehen. Um ihren ausgemergelten Leib, der vor Kälte zitterte, spürte sie seine Arme. Nein, dachte sie, er hat recht. Er braucht mich, und ich brauche ihn. Zurücklassen, in all der Kälte und Einsamkeit, kann ich ihn nicht.
    Er drückte sein Gesicht an ihren Bauch. Seine Finger gruben sich in sie, als wollten sie ihre Rippen durchbohren. Leise hörte sie ihn weinen. Sie schloss die Arme um ihn, senkte ihren Kopf auf seinen und weinte mit. »Willst du das wirklich, kleiner Louis? Mit der kleinen Mutter verreisen, auch wenn es weit ist und wir für lange Zeit nicht zurückkommen?«
    »Für wie lange Zeit, kleine Mutter?«
    »Das weiß ich nicht, mein Herz.«
    »Mir ist’s einerlei«, sagte er, schon wieder ganz getröstet.
    »Auch wenn du die anderen, den Vater und die Großmutter und Tante Mildred, nicht mehr siehst?«
    Er brauchte nicht einmal zu überlegen. »Das macht nicht viel aus. Ich habe doch dich.« Dann unterbrach er sich und streckte eine Hand nach dem Hund aus. »Aber Pebbles muss mit!«
    Durch Tränenschleier sah Daphne auf das ahnungslos schlafende Tier. Das ist nicht möglich, wollte sie sagen, doch Louis drückte ihre Hand, und ihre Blicke trafen sich, der des Kindes flehentlich, so dass sie ihm nicht widerstehen konnte. Louis war kein Kind, das durch Greinen und Betteln seinen Willen durchzusetzen suchte. Er tat überhaupt nie etwas aus Berechnung, sondern alles gerade so, wie es seinem Herzen einfiel. »Nun gut«, sagte Daphne und küsste seine Hand. »Wenn Pebbles mit muss, dann reisen wir eben zu dritt. Lass uns noch ein Weilchen still hier spielen, dann wird die kleine Mutter einen Brief schreiben, damit die anderen wissen, wo wir hingegangen sind, und dann legen wir uns nieder, damit wir für die Reise frisch und ausgeruht sind.«
    »Müssen wir keinen Koffer packen wie der Vater?«
    »Nein, mein Herz. Dort, wo wir hingehen, haben wir alles, was wir brauchen.«
    Es dauerte nicht lange, dann hatte Louis sich nach Kinderart in die neuen Gedanken hineingefunden

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