Die Mondrose
Beinen trat sie aus der Tür.
In ihrem Zimmer begann sie wahllos Dinge in einen Koffer zu werfen, während ihre Gedanken wie Pfeile kreuz und quer durch den Kopf schossen. Als Frau von Victor März würde sie nicht in denselben Kreisen verkehren wie Daphne und Hyperion, und auch wenn die Stadt nicht groß war, würde sie Daphne, die das Haus nie verließ, kaum über den Weg laufen. War der schmale Rücken in der grünen Seide also tatsächlich das Letzte, was sie von ihrer Schwester zu Gesicht bekommen hatte? Aber wie soll ich leben ohne sie, was ist mir mein Leben ohne sie wert?
Sie hatte auf diese Frage nie eine Antwort gewusst, und jetzt folgte die zweite Frage mit noch viel größerer Gewalt. Wie soll ich leben ohne Hyperion? Sie erschrak bis ins Innerste vor der Leere, die sich auftat, und vor der Gewissheit: Hätte sie von beiden nur einen wählen und behalten dürfen, sie hätte den Mann gewählt. Alles in ihr schrie: Ich kann nicht ohne ihn sein! Sie sah sein Gesicht vor sich und hätte auf der Stelle aufbrechen mögen, in das verhasste London fahren und zu ihm sagen: Geh nicht zurück. Bleib bei mir. Lass uns irgendwo unterkriechen, von der Hand in den Mund leben, einerlei, wenn ich dich nur bei mir habe. Und das war Mildred Adams geschehen, die für die Heldinnen aus Romanen und Liedern, die aus Liebe Armut und Not auf sich nahmen, nur Verachtung übrig hatte. Es war nicht zu fassen. Aber noch weniger war es zu ändern.
Mit nur einem Koffer wie ein entlassenes Dienstmädchen verließ sie das einzige Zuhause, das sie je besessen hatte, und trat hinaus in die Schwärze des Winterabends. Schneeregen trieb ihr entgegen, peitschte in Böen ihr Gesicht. Ihre Schritte taumelten, als wüsste sie nicht, wohin sie ihre Füße setzte. Aber es gab ja nur einen Weg, der ihr einzuschlagen blieb, nur einen Ort, an den sie gehen konnte, so verhasst er ihr war und so sehr sie sich schämte, dass sie dorthin zurückkehrte – Milton’s Court. Victor März stand in der Tür, als hätte er sie erwartet. Er breitete die Arme aus und fing sie darin auf. Mach mich wieder betrunken, dachte sie. Jeden Tag, jede Nacht aufs Neue. Gib mir heißen Wein, der mir die schreckliche Kälte ausbrennt und mich vergessen lässt, was ich verloren habe.
Kapitel 20
Tiefer Winter
M agst du nicht mehr spielen, kleine Mutter? Bist du zu krank?«
In der Bewegung hielt ihr Sohn inne, dass ihm die hölzerne Giraffe aus den winzigen Fingern glitt, und sah angsterfüllt zu ihr auf. Das hatte Mildred ihm eingeredet: Deine Mutter ist zu krank zum Spielen. Geh nicht zu ihr, du schadest ihr.
Louis aber hatte sich davon nie abhalten lassen. Er brauchte sie, wie sie ihn brauchte. Was die anderen auch unternahmen, um sie zu trennen, sie fanden immer wieder zueinander. Jetzt knieten sie auf dem Teppich vor dem Bett und spielten mit der Arche Noah, die Hyperion aus London geschickt hatte. Immer zu zweit marschierten die schön geschnitzten Tiere in den bauchigen Schiffsrumpf – zwei Pferde, zwei Elefanten, zwei Bären, zwei Giraffen, und am Ende, Hand in Hand, zwei Menschen. So zu zweit ließ sich der Sintflut trotzen. Solange man nicht verlassen, nicht der Letzte seiner Art war, schien nichts zu hart, nicht einmal der Tod.
Die Arche war als Geschenk für Weihnachten gedacht, aber Daphne hatte die Kiste einfach geöffnet und das Boot samt der Tiere vor Louis hingestellt, der hell darüber jauchzte. Er liebte Tiere. Der cremefarbene Welpe, den Mildred ihm gekauft hatte, lag zur Kugel gerollt an seiner Seite und schlief. Dass die Arche ein Geschenk seines Vaters war, hatte Daphne ihm nicht gesagt.
»Kleine Mutter, was ist dir?«
»Nichts, kleiner Louis.« Sie strich ihm über das Haar, hob die Giraffe auf und legte sie ihm wieder in die Hand. »Ich bin nur ein wenig müde. Vielleicht lege ich mich nachher, wenn wir gespielt haben, hin, und du gehst ins Kinderzimmer und schaust deine Bücher an, bis Großmutter Nell mit Anne und Esther wiederkommt, ja?« Sie hatte Nell gebeten, mit dem Kindermädchen und ihrer Tochter nach Petersfield zu fahren und einen Arzt aufzusuchen, der ihr für Gedeihstörungen bei Kindern empfohlen worden war. In Wahrheit glaubte sie nicht, dass irgendein Arzt Esther besser helfen konnte als Hyperion. Sie wollte nur allein sein. Deshalb hatte sie Sarah und Priscilla freigegeben, den heutigen Samstag und den morgigen Adventssonntag gleich mit. So blieb ihr ein wenig Zeit mit Louis, zu zweit wie die Tiere vor der Arche – zwei
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