Die Mondscheinbaeckerin
mache sie nicht für das verantwortlich, was ihre Mutter getan hatte, aber konnte sie ihm glauben? Was waren seine Motive? Das würde sie erst wissen, wenn dieses Spiel zu Ende war.
Ihre Mutter war der mutigste Mensch, den sie kannte, doch nicht einmal sie hatte es geschafft, sich ihrer Vergangenheit zu stellen.
Also würde Emily es für sie tun.
Um ihren Platz in Mullaby zu finden, musste sie sich von ihrer Mutter abgrenzen und gleichzeitig versuchen, die Vergangenheit ins Lot zu bringen. Wie sie das anstellen sollte, wusste sie nicht. Eine Stimme in ihrem Innern sagte ihr, dass Win es wahrscheinlich wusste, dass sein Interesse an ihr nicht ganz so unkompliziert war, wie es auf den ersten Blick aussah. Doch das galt umgekehrt genauso.
Sie dachte an die Endlosschleife, von der er gesprochen hatte. Emily hielt sich am selben Ort auf wie ihre Mutter im selben Alter und war ähnlich wie sie damals auf eine Weise mit den Coffeys verbunden, die niemand guthieÃ. Dafür musste es einen Grund geben.
Sie stand, den Zettel in der Hand, auf und trat an die Frisierkommode, um Shorts und Top anzuziehen. Allmählich gewöhnte sie sich daran, den Blick von der unruhigen Schmetterlingstapete abzuwenden, und auch an das leise flatternde Geräusch, das sie verursachte. Julias Ansicht nach bedeutete das, dass sie sich allmählich in Mullaby eingewöhnte.
Oder sie verlor den Verstand.
Da wurde ihr bewusst, dass sie kein Geräusch hörte. Als sie den Blick hob, wich sie verblüfft einen Schritt zurück. Die Schmetterlingstapete war verschwunden und einer silberfarbenen mit winzigen weiÃen Punkten gewichen, die aussahen wie Sterne. Sie erzeugte in ihr ein merkwürdiges Gefühl der Vorfreude, wie in der vergangenen Nacht.
Veränderte sie sich tatsächlich von selbst?
Emily fand diese Tapete wunderschön, weil sie ihr das Gefühl gab, sich in einer Wolke aufzuhalten. Sie legte die Hand an die Wand. Sie fühlte sich weich an, wie Samt. Wieso hatte ihre Mutter ihr diesen Raum verschwiegen?
Emily zog sich in Gedanken versunken an und ging nach unten. Zum Glück war Opa Vance bereits beim Frühstücken im Lokal. Also schrieb sie ihm einen Zettel, dass sie zum See fahre.
Sie erwähnte nicht, wen sie dort treffen wollte.
Beim Einsteigen in den Wagen hörte sie in der morgendlichen Stille jemanden ihren Namen rufen. Vor Schreck lieà sie die Autoschlüssel fallen. Als sie sich umdrehte, entdeckte sie die für diese frühe Stunde merkwürdig elegant gekleidete Stella in einem trägerlosen roten Kleid und hochhackigen Schuhen. Ihr breites Gesicht war mit Make-up-Spuren bedeckt, und ihre Mandelaugen wirkten müde. Sie sah aus, als hätte sie eine anstrengende Nacht hinter sich. Oder eine ziemlich gute.
»Hast du Julia gesehen?«, fragte Stella, als Emily sich nach den Schlüsseln bückte. »Ich war gerade bei Jâs Barbecue, da ist sie nicht.«
Emily richtete sich auf. »Ich war gestern mit ihr zusammen. Aber ich hab sie heute Nacht gegen eins mit ihrem Truck losfahren hören.«
»Wo sie wohl hinwollte?«
Emily zuckte unsicher mit den Achseln.
»Julia fährt nur selten mit dem Truck, und sie verlässt das Haus niemals spätabends. Ich mache mir Sorgen um sie.« Stella zupfte an ihrem roten Nagellack. »Findest du nicht auch, dass sie sich in letzter Zeit merkwürdig verhält?«
»Nur wenn Sawyer da ist.«
»Hmm. Irgendwas beschäftigt sie. Normalerweise bringe ich sie mit genug Wein zum Reden. Aber ich glaube, den Trick kennt sie inzwischen.«
Emily blickte nervös über die Schulter, weil sie Opa Vance erwartete. »Mir hat sie nichts gesagt.«
»Würdest du ihr bitte, wenn du sie siehst, ausrichten, dass ich nach ihr suche?« Stella nickte in Richtung des geparkten Oldsmobile. »Wo willst du denn so früh schon hin?«
»Zum See. Und Sie?«
»Ach, ich komme gerade nach Hause«, antwortete Stella und verzog das Gesicht. »ScheiÃe. Vergiss es. Ich bin kein gutes Vorbild.«
Emily stieg schmunzelnd in den Wagen, während Stella kopfschüttelnd auf ihr Haus zuging und dabei die hochhackigen Schuhe auszog.
Um diese Tageszeit herrschte so wenig Verkehr, dass Emily den Piney Woods Lake in Rekordzeit erreichte. Sie stellte den Wagen auf dem fast leeren Parkplatz ab, schaltete den Motor aus und blieb noch eine Weile sitzen, bis er sich knackend abgekühlt hatte. Sie
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