Die Moralisten
Aufseher zum Büro und gaben unsere Schaufeln ab. Der Farbige klopfte mir auf die Schulter, und ich ging mit ihm bis zur 126th Street. Zwischen Convent und St. Nicholas Avenue betraten wir ein Mietshaus, und ich sah ihre »große Wohnung«. Als wir durch den Flur gingen, merkte ich schon - vielleicht an den Schatten oder an dem Geruch von Schweinefleisch oder auch an den schwachen Birnen, die hoch oben unter der Decke hingen -, daß es ein Niggerhaus war. Wir stiegen drei Stockwerke hoch, und ich folgte Tom in eine der Wohnungen.
Die Tür führte gleich in die Küche. In einer Ecke stand eine grauhaarige Negerin von etwa fünfzig Jahren.
Tom ging zu ihr und sagte: »Mutter, das ist Francis Kane. Er hat keine Unterkunft und bleibt darum heute nacht bei uns.«
Die Nacht dauerte fast einen Monat, aber das wußte ich in diesem Augenblick noch nicht. Die Frau trat auf mich zu und blickte mir ins Gesicht. Mir war klar: wenn sie nicht einverstanden war, konnte ich nicht bleiben.
Sie betrachtete mich eine Weile, und dann sagte sie:
»Komm, setz dich, Francis, wir essen gleich.«
Ich bedankte mich bei ihr. Dann aßen wir zu Abend und blieben noch eine Weile am Tisch sitzen. Die Hitze, die vom Ofen ausströmte, machte mich schläfrig. Kopf und Augenlider wurden mir so schwer, daß ich dauernd meinen Kopf schütteln mußte, um wach zu bleiben.
Gegen sieben Uhr sagte Mrs. Harris: »Tom, du und dein Freund, ihr solltet jetzt lieber schlafen gehen, weil du um half elf wieder an der anderen Arbeitsstelle sein mußt.«
Ich blickte Tom fragend an. Er erklärte mir: »Ich kann an der 129th Street und Third Avenue Nachtarbeit beim
Schneeschaufeln bekommen. Dort wissen sie nicht, daß ich tagsüber hier arbeite. Willst du mitkommen?«
»Ja, vielen Dank«, sagte ich.
Da ich den jüngeren Bruder nirgendwo sah, erkundigte ich mich bei Tom nach ihm und erfuhr, daß er nachmittags in einem Laden in der Nähe arbeitete.
Wir legten uns in einem großen Doppelbett schlafen. In demselben Raum stand noch ein Einzelbett. Tom erklärte mir, daß es seiner Schwester gehörte.
Ich hatte meinen Arbeitsanzug und meine Schuhe ausgezogen und streckte mich lang. Es kam mir vor, als sei ich kaum eingeschlafen, da rüttelte mich schon wieder jemand an der Schulter und sagte: »Steh auf, Junge, steh auf! Zeit, zur Arbeit zu gehen.«
Ich schlug die Augen auf und setzte mich auf. Im Zimmer konnte ich kaum etwas erkennen, da keine Lampe brannte. Der einzige Lichtschein drang durch einen Spalt in der Wand aus dem nächsten Zimmer. Noch halb im Schlaf begann ich mich anzuziehen. Als meine Augen sich allmählich an die Dunkelheit gewöhnten, sah ich, daß das andere Bett besetzt war. Der Kopf eines Mädchens schaute aus den Decken hervor, und ich sah das Weiße ihrer Augen, als sie mich beim Anziehen beobachtete. Ich empfand keine Scheu, und als ich aus dem Zimmer ging, wünschte ich ihr gute Nacht. Sie sagte nichts. Tom und ich arbeiteten bis morgens um halb sechs. Die Arbeit war dieselbe wie am vorhergehenden Tag. Als wir um halb sechs aufhörten, gingen wir in Toms Wohnung zurück und legten uns sogleich wieder schlafen. Um halb neun mußten wir wieder raus und arbeiteten den ganzen Tag hindurch.
Die Arbeit dauerte zweieinhalb Tage, dann wurden wir entlassen. Bei der Entlöhnung erhielt ich das Geld für fünf Tage, da ich in zwei Schichten gearbeitet hatte. Ich besaß nun $ 17.50 und hatte das Gefühl, New York sei eine Goldgrube für mich. Es war gar nicht so schwer, Geld zu machen oder Arbeit zu finden. Seit Wochen nahm ich zum erstenmal Notiz von anderen Leuten und betrachtete sie nicht mehr als eine Klasse für sich, mit der ich nichts zu tun hatte, sondern fühlte mich ihnen zugehörig. Ich hatte Schulter an Schulter mit ihnen gearbeitet.
In einem Pfandladen kaufte ich mir getragene Sachen: einen Anzug, zwei Hemden, einen Mantel und ein Paar Schuhe - alles für elf Dollar. Meine alten Sachen ließ ich dort.
In Toms Wohnung bot ich Mrs. Harris die Hälfte meines restlichen Geldes an, weil sie mich dort hatte wohnen lassen. Aber sie wollte es nicht und meinte, ich würde es noch brauchen können.
Gegen zwei Uhr nachmittags legten Tom und ich uns aufs Ohr und wachten erst gegen neun Uhr abends wieder auf. Wir aßen zu Abend, und während des Essens kam seine Schwester herein. Zum erstenmal konnte ich sie mir genauer ansehen. Sie war etwa vierzehn Jahre alt und hatte hartes, gerades schwarzes Haar, das sie hinter die Ohren gekämmt trug, ein
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