Die Moralisten
längliches Gesicht und dunkelbraune Haut. Sie benutzte purpurroten Lippenstift. Ihre Schultern waren breit, ihre Arme und Beine dünn und ein wenig muskulös. Sie setzte sich an den Tisch und wandte sich an Tom: »Bist du entlassen?«
»Ja«, erwiderte Tom, »alle beide.«
»Was willst du jetzt anfangen?« fragte sie. Aber sie meinte nicht ihn, sondern mich.
Tom gab keine Antwort.
»Ich weiß noch nicht«, sagte ich. »Wahrscheinlich werde ich mir eine neue Arbeit suchen.«
Sie warf den Kopf in den Nacken. »Das hast du dir so gedacht. Es gibt einfach keine Arbeit.«
»Das möchte ich nicht sagen. Diese ist mir geradezu in den Schoß gefallen.«
»Da hast du Glück gehabt. Aber das hält meist nicht an.«
»Wo ist Mutter?« fragte Tom und wechselte taktvoll das Thema.
»Sie ist mit Sam zur Versammlung gegangen. Sie hat mich zurückgeschickt, um dich zu holen, wenn du aufgewacht wärst.«
»Na, schön«, meinte Tom. »Dann wollen wir jetzt lieber gehen.« Er zog seinen Mantel an, und die beiden gingen zusammen aus der Tür.
Wir alle wußten, daß ich mich ihnen nicht anschließen konnte, und daher wurde ich auch gar nicht erst gefragt. Es verging ungefähr eine Stunde. Ich las die Zeitung, rauchte und wurde allmählich müde, als sich die Tür öffnete und Elly hereinkam.
Sie setzte sich an den Tisch. »Immer noch auf?«
»Wie du siehst.«
»Die anderen werden noch ein paar Stunden in der Versammlung sein. Ich wurde müde. Darum bin ich früher nach Hause gekommen.«
Ich saß am Fenster und blickte schweigend in den Hof. Sie ließen meist das Fenster ein ganz klein wenig offen, weil einer der Nachbarn ein Radio besaß, und sie lauschten dann der Musik. Aber an diesem Abend spielte das Radio nicht.
»Na, gute Nacht«, sagte Elly.
»Gute Nacht«, erwiderte ich.
Sie ging ins Nebenzimmer, und ich konnte hören, wie sie dort
umherging.
Sie rief durch die offene Tür: »Bist du nicht müde? Warum gehst du nicht zu Bett?«
»Nein«, sagte ich, »ich bin nicht müde. Mit dem Schlafengehen warte ich, bis Tom zurückkommt.«
»Der kommt erst spät. Du weißt ja, wie solche Versammlungen sind.«
»Das macht nichts. Ich bin nicht müde.«
Eine Viertelstunde lang herrschte Schweigen. Dann kam sie, einen Mantel über ihrem Nachthemd, durch die Küche, um zur Toilette im Flur zu gehen. Kurz darauf kam sie zurück und ging wieder ins Schlafzimmer. Dabei warf sie mir einen Blick zu, aber ich wandte den Kopf zur Seite. In den nächsten paar Minuten war nichts zu hören. Dann rief sie: »Frankie, würdest du mir wohl bitte ein Glas Wasser bringen?«
»Natürlich«, sagte ich. Ich nahm ein Glas, füllte es am Ausguß mit Wasser und brachte es ihr ins Schlafzimmer. Sie nahm es mir aus der Hand und trank, wobei sie aufrecht im Bett saß und sich die Decke umhielt. Als sie mir das Glas zurückgab, glitt die Decke hinab, und ich sah, daß ihr Oberkörper entblößt war. Ihre Schultern und Brüste hoben sich dunkel von dem grauweißen Laken ab. Sie blickte mich vielsagend an.
Ich wollte gehen, aber sie legte mir die Hand auf den Arm. »Was ist los mit dir, Junge? Hast du Angst?«
»Nein«, sagte ich. Dann: »Vielleicht doch.«
»Keiner wird es erfahren«, sagte sie.
»Das ist nicht der Grund«, sagte ich und wollte das Zimmer verlassen. Ich dachte an Tom und an ihre Mutter und was für eine Gemeinheit es wäre nach allem, was sie für mich getan hatten.
Sie sprang aus dem Bett, packte mich bei den Schultern uid preßte sich an mich. Sie war völlig nackt. Ich versuchte sie abzuschütteln, aber sie ließ nicht locker. Dieser Kampf löste einen merkwürdigen Zwiespalt in mir aus. Es war weniger das Bestreben, von ihr loszukommen, als gegen das Verlangen nach ihrem Körper anzukämpfen. Schließlich versetzte ich ihr einen heftigen Schlag ins Gesicht.
Sie wich, völlig erstarrt, zurück und fauchte: »Wenn du's nicht tust, schreie ich. Ich tobe, daß das ganze Haus zusammenrennt. Und dann erzähl ich allen, daß du versucht hast, mich zu vergewaltigen.«
Ich stand eine Weile wie angewurzelt da. Dann ging ich zur Tür. Elly öffnete ihren Mund und fing an zu schreien. Ich kehrte um, legte ihr die Hand auf den Mund und befahl ihr, ruhig zu sein, sonst würde ich sie umbringen. Sie biß mich in die Hand. Ich hob sie auf, warf sie aufs Bett und wollte wieder gehen.
Sie sagte: »Ich werde schreien.«
Ich ging wieder zu ihr. »Schon gut«, sagte ich. »Schon gut.«
Es war gegen halb eins, als die anderen aus der
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