Die Moralisten
Kuß habe ich es gewußt. Es war nicht fair. Es war gemein. Aber ich habe es gewußt, und du hast es gewußt, und wir konnten nichts daran ändern. Auf Wiedersehen heute abend, Liebster. Leb wohl.«
»Leb wohl.« Ich hängte auf und ging wieder an den Strand.
Um Mitternacht, als ich bereits angefangen hatte, die Eisbar aufzuräumen, war Marianne immer noch nicht da. Ich erwartete sie auch nicht mehr und dachte, sie würde am nächsten Morgen kommen. Charlie, mein Boss, arbeitete am anderen Ende der Halle. Ich wusch die Siruppumpen in der Nähe des Eingangs, und wir unterhielten uns, weil gerade keine Kunden da waren.
Charlie hatte mich schon manchmal geneckt, weil ich nie mit einem Mädchen ausging, aber ich hielt es nicht für nötig, ihm meine Gründe dafür auseinanderzusetzen. Nach dieser Woche würde das Geschäft allmählich abflauen. Das Labour-Day-Wochenende war der Höhepunkt des Jahres. Charlie hatte noch eine Eisbar in Miami Beach, wo er hinfahren wollte, wenn er hier zumachte. Sein Partner führte die Eisbar im Sommer, während Charlie hier war.
Ich war mit den Pumpen fertig und stellte alle Gläser säuberlich auf das Regal. Dann sah ich auf die Uhr. Es war halb eins.
»Möchten Sie etwas früher aufhören, Frank?« fragte Charlie grinsend. »Haben Sie was Nettes an der Strippe?«
Ich schüttelte den Kopf.
Es wurde eins, und wir schlossen. Ich wartete noch ein paar Minuten außerhalb der Halle, aber Marianne kam nicht. Ich ging zur Strandpromenade, setzte mich auf eine der Bänke und zündete mir eine Zigarette an. Ich nahm an, daß sie es nicht geschafft hatte. Die Strandpromenade war fast leer, nur ein paar Leute gingen noch spazieren. Vielleicht hatte sie nur so dahergeredet, dachte ich. Vielleicht kommt sie überhaupt nicht.
Ein Paar Hände legten sich auf meine Augen, und eine weiche Stimme flüsterte mir ins Ohr: »Rate mal, wer da ist.«
Ich wußte, wer es war. Ich konnte es spüren. Aber ich ging auf das Spiel ein. »Jane!« sagte ich.
»Nein«, sagte Marianne.
»Helen? Mary? Edna?« Ich mußte lachen.
»Ich gebe dir noch eine Chance. Wenn du es jetzt nicht rätst, gehe ich nach Hause. Vielleicht hätte ich überhaupt nicht kommen sollen. Du scheinst ja ziemlich besetzt zu sein.«
Ich nahm ihre Hände von meinen Augen, küßte die Handflächen und rieb meine Wange daran. Dann drehte ich mich um und zog sie neben mich auf die Bank. »Marianne«, sagte ich, »ich dachte schon, du kämst nicht.«
Sie lächelte. Ihre weißen Zähne waren wunderbar gleichmäßig, und ihr weiches rötliches Haar schimmerte im Mondlicht. »Als ich wußte, wo du warst, Liebster, konnte ich einfach nicht mehr in New York bleiben, selbst wenn ich gewollt hätte.«
Ich küßte sie. Der Kuß war weich, zärtlich, warm und leidenschaftlich zugleich. Ich hatte das Gefühl, als schritt ich auf Wolken und schwebte im siebenten Himmel. Ich war wieder ein kleiner Junge und doch ein Mann. Freude erfüllte mich, und ein kleiner Kloß saß mir im Hals, so daß ich nicht sprechen konnte.
Ich sah ihr in die Augen. Sie waren zärtlich und schwammen in Tränen. Ich preßte Marianne fest an mich und spürte das
Klopfen ihres Herzens.
»Siehst du nun, was ich am Telefon gemeint habe?« flüsterte sie. »Wir empfinden beide genau das gleiche. Du kannst deinem Gefühl nicht entrinnen, indem du davonläufst. Gerro hat mir viel von dir erzählt. Du bist aus einem Heim weggelaufen. Ich dachte, du würdest es wieder so machen und auch von mir weglaufen. Aber jetzt weiß ich: du kannst nicht mehr weglaufen.«
»Marianne, ich liebe dich. Du bist für mich alles, was die Welt überhaupt zu bieten hat. Du bist mein ein und mein alles. Marianne, ich liebe dich.«
Sie legte ihren Kopf an meine Schulter. »Das habe ich hören wollen. Ich liebe dich. Ich liebe dich. Ich liebe dich.«
Wir standen auf und wanderten die Strandpromenade entlang. Dann gingen wir zum Strand hinunter und redeten über tausend Dinge. Und während wir wanderten und redeten, hielten wir uns eng umschlungen. Unsere Hände berührten sich, und wir sahen uns tief in die Augen.
Später, als der Mond tief am westlichen Himmel stand und wir am Fenster meines Zimmers lehnten und, eine Zigarette rauchend, aufs Meer blickten, da wurde mir plötzlich klar, daß die Zeit mit mir Schritt gehalten hatte. Ich hatte in dieser Nacht zum erstenmal wirklich geliebt, und der Unterschied lag darin, daß man gab, nicht nahm.
Und früh in der Dämmerung, als ich plötzlich
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