Die Moralisten
lächelte Judd. Ihre bernsteingelben Augen verschwammen. »Ich habe Krebs. Mir bleiben wahrschein lich nur noch zwei Monate.« »Ist das sicher?« fragte Judd. Seine kobaltblauen Augen verdüsterten sich.
»Ganz sicher«, erwiderte sie sachlich. »Ich weiß es schon lange. Jetzt läuft die Uhr ab.« »Das tut mir leid.«
»Ich habe mein Leben gelebt«, sagte sie. »Sie denken wahrscheinlich, ich wäre erst Mitte Sechzig. Das stimmt nicht. Ich bin bereits zweiundsiebzig.« Judd schwieg.
Die Ärztin zog an ihrer Zigarette. »Ich möchte nicht, daß die Ergebnisse meiner Forschungsarbeiten den Sowjets in die Hände fallen. Ich habe fast alle Akten in Jugoslawien gelassen, damit sie nicht mißtrauisch werden.«
Sie zeigte auf die beiden Koffer. »Aber in diesen beiden Koffern befinden sich sämtliche relevanten Unterlagen: die Magnetbänder, die Mikrofilme und meine Notizbücher. Vielleicht fehlt das eine oder andere, und ich habe meine Aufzeichnungen auch auf sehr naive Weise verschlüsselt, aber ich bin sicher, Ihre Computer werden alles ohne Mühe entziffern. Ich möchte Sie lediglich bitten, mit meinen Forschungen vorsichtig umzuge hen und die Ergebnisse nicht nur zur Steigerung Ihrer Profite einzusetzen, sondern zum Wohle der Menschheit.«
Judd nickte. »Entschuldigen Sie mich für einen Moment.« Er nahm das Telefon und tippte eine zweistellige Nummer. »Hier Crane Aviation«, meldete sich eine Stimme. »Hier spricht Judd Crane. Ich bin in ungefähr zwölf Minuten bei Ihnen. Ich brauche den kleinen Jet, Falcon Twenty. Lassen Sie sich eine Starterlaubnis nach Langley Field, Washington, geben. Beim Hinflug haben Sie zwei Passagiere, auf dem Rückflug sind wir zu dritt.« »Jawohl, Mr. Crane«, sagte die Stimme. Judd schob das Telefon weg und wandte sich der Ärztin zu. »Ich werde Sofia nicht vorwarnen. Wenn ich sie jetzt anrufe, besteht immer noch die Gefahr, daß jemand den Anruf verfolgt und sie findet.«
»Ich verstehe«, nickte Dr. Zabiski. Sie drückte ihre Zigarette aus und warf ihm einen anerkennenden Blick zu. »Ich weiß zwar nicht, wie Sie es geschafft haben, Mr. Crane, aber eines muß ich Ihnen lassen: Die Russen haben jeden Groll gegen Sofia begraben. Ich bin beauftragt, sie direkt zu Breschnew zu bringen.«
»Was soll sie denn machen, wenn er tot ist?« »Das weiß ich nicht. Ich hoffe nur, daß sie genug über meine Arbeit weiß, um sie fortzusetzen. Ich würde es begrüßen wenn sie hier bei Ihnen arbeiten würde, aber das kann ich nicht bestimmen.«
»Also fliegen Sie nach Jugoslawien zurück, wenn Sie Sofia nach Moskau gebracht haben?« fragte Judd.
»Nein«, erwiderte die Ärztin. »Ich werde mich im Ma-xim-Gorki-Krankenhaus in Moskau aufhalten.«
»Dann kann ich Sie also nicht mehr sehen?« »Wohl kaum.«
Judd schwieg. »Das ist sehr schade.« Er warf ihr einen langen Blick zu. »Ich werde Sie sehr vermissen.«
»Ich werde Sie auch vermissen«, sagte die Ärztin leise. »Ich habe noch keinen Mann getroffen wie Sie.«
Sie legte ihre Hand in seine. Sie war weich, zierlich und schien sehr zerbrechlich. »Alte Damen können sich auch noch verlieben«, lä chelte sie.
Er küßte ihr die Hand. »Deshalb bleiben sie auch für immer schön.«
Auf dem Flughafen Langley stand eine Limousine mit zwei Sicherheitsbeamten für sie bereit. Sobald die Limousine sich in Bewegung gesetzt hatte, nahm Judd das Telefon und rief die Privatklinik an. Er wurde sofort mit Sofia verbunden. Er nannte weder ihren noch seinen eigenen Namen. »Ich komme in dreißig Minuten«, sagte er. »Laß alles stehen und liegen. Zieh einfach deinen Mantel an, als ob du einen Spa ziergang vorhättest. An der Ecke Langley- und Arlington Street ist ein Einkaufszentrum mit einem Drugstore.
Setz dich da rein, in die Nähe des Eiskremverkäufers, und zwar so nahe wie möglich ans Fenster, damit du sehen kannst, was draußen passiert. Warte dort, bis ich dich abhole. Alles verstanden?«
»Ja«, sagte sie und hängte ein.
Eine halbe Stunde später betrat Judd den Drugstore. Sofia saß genau dort, wo er sie vermutete. Er nahm neben
ihr Platz.
»Frau Dr. Zabiski wartet draußen im Wagen«, sagte er leise. »Ist alles klar?« »Ich glaube, ich werde verfolgt «, erwiderte sie.
»Wo ist er?«
»Da drüben beim Andenkenladen. Ein untersetzter Typ mit einem dicken schwarzen Mantel. Ich glaube, ich habe ihn auch in der Klinik schon mehrfach gesehen.« Judd nickte und hob den kleinen Metallknopf, den er in der Hand hatte, zum Ohr.
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