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Die Morgengabe

Die Morgengabe

Titel: Die Morgengabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Ibbotson
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bezahlen kann, und Psychoanalyse
wirkt nur, wenn man dafür bezahlt.»
    «Außerdem darf ich in England gar
nicht praktizieren», sagte Fräulein Lutzenholler abschließend.
    «Aber ich dachte, Sie wüßten
vielleicht, ob ich irgend etwas tun kann.» Es war Ruth schwergefallen, die
Analytikerin in ihrem ungastlichen Zimmer aufzusuchen, zumal sie sich nach
ihren Bemerkungen über die im Bus verlorenen Papiere geschworen hatte, ihr nie
wieder etwas zu erzählen. Aber man konnte anscheinend seinem Schicksal nicht
entkommen. «Ich bin so unglücklich, wissen Sie, und ich dachte, es gibt
vielleicht in meiner Kindheit irgend etwas, das ich nicht verstanden habe.
Etwas, das ich verdrängt habe.»
    Fräulein Lutzenholler stellte
seufzend ihre Tasse nieder. «Ist es wahr, daß Heini auszieht?» fragte sie.
    Ruth nickte, und etwas wie ein
Lächeln flog über das Gesicht der Analytikerin und erhellte den Schnurrbart auf
ihrer Oberlippe.
    «Mit der Verdrängung ist das nicht
so einfach», sagte sie.
    «Nein, sicher nicht. Aber ich weiß,
wenn man irgend etwas Schlimmes mitansieht, solange man noch klein ist ... wenn
man die eigenen Eltern – ach, Sie wissen schon, wenn man sie beim Liebesakt
überrascht. Aber das war bei mir nie der Fall. Wenn mein Vater seinen
Mittagsschlaf hielt, sind alle auf Zehenspitzen herum geschlichen, und meine
Mutter saß mit ihrer Stickerei im Salon wie ein Wachposten und ermahnte dauernd
alle zur Ruhe. Und sowieso hatte unsere Wohnung Doppeltüren, da konnte man gar
nichts hören. Und am Grundlsee bin ich nach der vielen frischen Luft immer
sofort eingeschlafen. Ich glaube deshalb nicht, daß ich ein Trauma habe, und
ich kann nicht verstehen, was los ist.»
    Fräulein Lutzenholler runzelte die
Stirn. Die gute Laune, die die Nachricht von Heinis beabsichtigtem Auszug
hervorgerufen hatte, war schon wieder vergangen, und sie sorgte sich jetzt um
ihre Wärmflasche. Sie hatte sie vor einer halben Stunde gefüllt und stieg gern
in ihr Bett, solange sie noch richtig heiß war.
    «Wovon sprechen Sie eigentlich?»
fragte sie, während sie die Haut mit dem Löffel vom Kakao schöpfte und in den
Mund schob. «Ich verstehe Sie nicht.»
    Ruth, die den ganzen Tag vor dem
Wort zurückgeschreckt war, sprach es jetzt aus.
    Es folgte eine Pause. Fräulein
Lutzenholler sah auf die Uhr. «Ruth, es ist Viertel vor elf. Ich kann das jetzt
nicht mit Ihnen diskutieren. Es ist ein technisches Problem, das viele Ursachen
haben kann; physiologische, psychologische ...»
    «Ach,
bitte, bitte helfen Sie mir doch!»
    Fräulein
Lutzenholler unterdrückte ein Gähnen.
    «Also gut,
dann erzählen Sie mir, was geschehen ist.»
    Ruth begann zu sprechen. Ihre Worte
überschlugen sich, Tränen schossen ihr in die Augen, das Haar fiel ihr ins
Gesicht und wurde ungeduldig zurückgestrichen.
    Fräulein Lutzenholler hörte sich
diese Ergüsse einer gequälten Seele mit wachsendem und unverhohlenem
Mißvergnügen an. Sie stellte ihre schmutzige Tasse wieder auf die Untertasse.
    «Ich glaube, Sie müssen erst einmal
begreifen, Ruth, daß Fachausdrücke keine Spielzeuge für Amateure sind. Ich
kann Ihnen leider nicht helfen, und ich möchte jetzt zu Bett gehen.»
    «Ja,
natürlich ... entschuldigen Sie vielmals.»
    Ruth
wischte sich die Augen und stand auf. Sie war schon an der Tür, als Fräulein
Lutzenholler einen einzigen Satz sagte. «Vielleicht», sagte sie, «lieben Sie
ihn nicht.»
    Ein paar Tage später gab Heini bekannt, daß er nun doch
bleiben werde. Seine Bemühungen, ein Zimmer zu finden, hatten ihn tief
erschüttert: Die Mieten waren unerschwinglich, üben durfte man praktisch
überhaupt nicht, und natürlich gab es niemanden, der für einen kochte. Da der
erste Durchgang des Klavierwettbewerbs nur noch sechs Wochen entfernt war,
schuldete er es allen, sich die besten Arbeitsbedingungen zu sichern. Und auf
Mantella mußte man ja auch noch Rücksicht nehmen. Heinis Agent hatte ein
Presseinterview geplant, bei dem Ruth zugegen sein sollte. Wenn Heini ihr auch
nicht ganz vergeben konnte, so war er doch entschlossen, ihr nichts
nachzutragen, und so wurde dann in Belsize Park, während sich das Osterfest
näherte, eine Art stillschweigender Waffenstillstand geschlossen.
    Zu Verenas vielen ausgezeichneten Eigenschaften gehörte eine
leidenschaftliche Begierde, an den Zusammenkünften gelehrter Geister
teilzunehmen, insbesondere an solchen mit nachfolgenden Empfängen, bei denen
sie, als Tochter des Vizekanzlers der Universität

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