Die Morgengabe
zweites Törtchen und danach noch ein
Schokoladeneclair zu vertilgen. Als sie später das Lokal verließen, machte sie
ihm mit gewohnter Hochherzigkeit ein Versprechen.
«Ich weiß, Sie mögen es nicht, wenn man
Ihnen dankt, aber für eine Einladung zum Tee bedankt man sich nun mal. Sie
können sich also darauf verlassen, daß ich nie wieder versuchen werde, Sie
allein zu sprechen. Ich werde nur noch ein anonymes Gesicht in der Menge sein»,
beteuerte Ruth etwas theatralisch. «Ich werde nicht existent sein.»
Quin sah sie nur schweigend an. Ein
seltsamer Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Ruths Augen glühten mit dem Feuer
jener, die heilige Eide schwören, und ihr ungebärdiges Haar leuchtete im Licht der Lüster. Ein junger Mann,
der mit einem Freund vorüberkam, blickte zurück, um sie anzustarren, und stieß
mit dem Portier zusammen.
«Da bin ich aber gespannt», sagte
Quin gedankenvoll. «Ja, auf Ihre Nichtexistenz bin ich wirklich gespannt.»
Ruth hielt Wort. Bei den Vorlesungen
saß sie stets ganz hinten (wenn auch nicht mehr in Hildas Regenmantel); sie
wich an die Wand zurück, wenn der Professor an ihr vorüberging; niemals wurde
in seinen Seminaren ihre Stimme vernommen.
Das hieß aber nicht, daß sie keine
Fragen stellte. Während Quin mit seinen Vorlesungen und Seminaren immer neue
Türen in ihrem Geist öffnete, drillte sie ihre Freunde, für sie zu fragen, und
es bereitete Quin ein köstliches Vergnügen zu hören, wie Pilly durch
Formulierungen stolperte, die unverkennbar Ruths Stempel trugen.
Dennoch, Mutter Natur hatte Ruth
nicht zur Nichtexistenz geschaffen, darauf wiesen besonders Sam und Janet hin,
die Ruth offen sagten, sie fänden, sie übertreibe. «Nur weil du ihn in Wien mal
gekannt hast, brauchst du doch nicht solche Verrenkungen zu machen, um ihm ja
nicht unter die Augen zu kommen», meinte Sam. «Außerdem ist es sowieso die
totale Zeitverschwendung – mit deinem Haar kann man dich über den ganzen Hof
sehen. Ich wette, der weiß ganz genau, wo du bist.»
Damit hatte Sam leider nur allzu
recht. Wenn Ruth sich über die Terrassenbrüstung beugte, um die Enten zu
füttern, wenn sie in der Bibliothek hinter einem Stapel Bücher saß und auf
einem Grashalm kaute, wenn sie unter dem Walnußbaum saß und Pilly abhörte oder
trunken von Musik aus der Chorprobe kam, dann existierte sie auf unübersehbare
Weise. Quin hätte von sich ohne jede Überheblichkeit gesagt, daß er im
allgemeinen ein Mann mit ausgezeichneten Nerven sei, aber eine Woche
demonstrativer Anonymität von seiten Ruths hatte ihren Tribut gefordert.
Während Ruth sich bemühte, Quin
Somerville aus dem Weg zu gehen, tat Verena Plackett nichts dergleichen.
Pünktlich wie die wandelnde Uhr trat sie jeden Morgen aus dem Haus, unter dem
einen Arm ihre Krokodilledertasche, über dem anderen einen blütenweißen
Laborkittel, einen von dreien, die sie täglich wechselte. Sie blieb bei ihrer
Gewohnheit, jedem Dozenten nach seiner Vorlesung auch im Namen ihrer Eltern zu
danken, und bei praktischen Übungen akzeptierte sie einzig den kriecherischen
Kenneth Easton als Partner. In Quin Somervilles Seminaren brillierte Verena.
Die Beine adrett an den Knöcheln gekreuzt, saß sie auf dem Stuhl gleich neben
dem Professor und stellte intelligente Fragen, sprach niemals in abgerissenen
Sätzen und ließ deutlich durchblikken, daß sie nicht nur die von ihm
empfohlenen Texte gelesen hatte, sondern noch viele andere mehr.
Daß Ruth eine ernstzunehmende
Konkurrentin um akademische Ehren sein könnte, war Verena zunächst gar nicht in
den Sinn gekommen. So ein schüchternes Ding, das mit Schafen schwatzte,
verdiente keine Beachtung. Um so schockierender fand sie es, als sie bei der
Rückgabe der ersten Aufsätze feststellen mußte, daß Ruths Noten den ihren in
nichts nachstanden und daß man dieses unscheinbare kleine Ding allgemein für
fähig hielt, ein erstklassiges Examen zu machen. Verena warf den Kopf in den
Nacken und beschloß, noch mehr zu arbeiten. Und Ruth faßte den gleichen
Entschluß. Nur machte Ruth sich Vorwürfe, fühlte sich beschmutzt, und in der
Nacht, wenn Hilda schlief, setzte sie sich in ihrem Bett auf und sprach sehr
ernst mit Gott.
«Bitte, Gott», betete sie, «laß mich
nicht konkurrieren. Laß mich immer daran denken, daß es ein Privileg ist,
studieren zu dürfen, und laß mich nie vergessen, daß Wissen um seiner selbst
willen erworben werden will. Und bitte, bitte gib, daß es mir gleich ist, ob
ich in den
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