Die Mütter-Mafia
speziell die Erzieherinnen, mein Kind auch so, wie es ist? Oder halten sie seine Zurückhaltung für phlegmatisch, seine Gewitztheit für altklug und seine Nachdenklichkeit für melancholisch? Und dann war da immer die Angst, auf eine Erzieherin zu treffen, die meinen Sohn einfach nicht mögen könnte. Es mag vielleicht ein Tabuthema sein, aber auch gegenüber kleinen Kindern kann man als Erwachsener Antipathie empfinden. Ich glaube nicht, dass Rousseau Recht hat mit seiner Theorie, dass der Mensch bei der Geburt rein und unschuldig ist und erst durch uns Erwachsene und unseren Einfluss verdorben wird. Ich bekenne mich zu dem Glauben, dass es Menschen gibt, die schon als kleine Widerlinge geboren werden. Manche Kinder, und mögen sie noch so klein sein, sind mir einfach von Grund auf unsympathisch, da kannch gar nichts gegen machen. Warum sollte es Erzieherinnen anders gehen? Sie sind schließlich auch nur Menschen.
Die Leiterin der Villa Kunterbunt, eine Frau Siebeck, leitete auch die »Herr-Nilsson-Gruppe«, in der Julius bereits einen mit seinem Namen beschrifteten Haken besaß. Über den Haken war ein Marienkäfer gemalt.
»Marienkäfer sind meine Lieblingstiere«, sagte Julius erfreut. »Marienkäfer und Tiger.«
Frau Siebeck lachte und streichelte Julius durch die hellblonden Schafslöckchen. »Siehst du, das habe ich mir schon gedacht!«
Ich war einigermaßen erleichtert. Falls sie Julius unsympathisch fand, dann war sie professionell genug, sich das nicht anmerken zu lassen. Genauso wenig wie ein mögliches Befremden über meinen abgebrochenen Absatz. Nette Frau.
Julius hatte keine Probleme, sich von mir zu verabschieden. Er streichelte mich freundlich. »Du kannst wieder nach Hause zum Revonieren gehen, Mami.«
Das hätte ich getan, aber Frau Siebeck wies mich an, im Garderobenraum auf sie zu warten, bis sie Julius drinnen alles gezeigt habe. Ich müsse noch diverse Unterlagen unterschreiben, Waldspaziergänge, Zahnhygiene und mögliche Notfälle betreffend.
Also setzte ich mich brav auf die Bank unter Julius' Marienkäferhaken und studierte die Anschläge am Schwarzen Brett.
Seit dem letzten Mitbringtag ist Melisandes »California Girl Barbie« spurlos verschwunden. Wir bitten alle Mamis, noch einmal gründlich in den Kinderzimmern nachzuschauen. Absolute Diskretion bei Rückgabe ist selbstverständlich.
Es sind noch Plätze frei für den Mutter-Kind-Workshop »Serviettentechnik auf Baumwolltaschen«. Wir fertigen unseren individuellen Einkaufsbeutel. Verbindliche Anmeldungen bitte in Marie-Antoinettes Fach legen.
Ein Junge, jünger als Julius, stürmte in den Garderobenraum. Er schleuderte eine himmelblaue Kindergartentasche auf den Boden und schrie: »Iss bin dä Ääßte! Iss bin dä Ääßte!«
Hinter ihm kamen ein etwa sechsjähriges Mädchen und eine hoch gewachsene Frau durch die Tür. Die Frau erinnerte mich fatal an meine Mutter, dieselbe knochige Statur, das kräftige Pferdegebiss, die vollen Lippen, die weit auseinander stehenden hellen Augen - genau wie meine Mutter in jungen Jahren. Ich kam ganz und gar auf meinen Vater, habe ich das schon mal erwähnt?
»Mama! Marlon hat meine Tasche auf den Boden geschmissen«, beschwerte sich das Mädchen. »Du hast erlaubt, dass er sie tragen darf und jetzt ...«
»Das hat er sicher nicht mit Absicht gemacht, Flavia«, sagte die Frau, die aussah wie meine Mutter, und studierte die Anschläge am schwarzen Brett. Wer hat eine grüne Turnhose, Gr. 104, gefunden oder aus Versehen mit nach Hause genommen? »Aus Versehen« war dreimal unterstrichen.
»Hat er wohl mit Absicht gemacht«, sagte Flavia. Ihr fehlten die beiden Schneidezähne, was ihr ein lustiges Aussehen verlieh.
»Hab iß niß«, schrie Marlon und versetzte der himmelblauen Kindergartentasche einen Tritt.
»Mamaaa!«, rief Flavia. »Jetzt hat er die Tasche getreten!«
Die Mutter seufzte nur. Ohne sich vom schwarzen Brett abzuwenden, sagte sie: »Flavia! Du sollst aufhören, Marlon immer zu provozieren! Zieh deine Pantoffeln an, wir haben nicht ewig Zeit!«
Als Flavia sich bückte, um ihre Tasche aufzuheben, spuckte Marlon ihr geräuschvoll auf den Rücken.
»Du fiese Ratte!« Flavia revanchierte sich mit einem Schubs.
Obwohl es nur ein kleiner Schubs war, torkelte Marlon durch die halbe Garderobe und landete auf meinen Füßen, um dort in manisches Gebrüll auszubrechen. So ohrenbetäubend, dass mein »Aua«-Aufschrei ungehört verhallte.
»Die Flavia hat miss umdessubßt!«,
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