Die Mumie
aus.«
Er nahm seinen Gehstock und ging zur Tür. Er drehte sich nicht um. Sein Gesicht brannte vor Scham. Aber dies war seine einzige kleine Chance, und er spielte sie aus, auch wenn er sich dabei noch so erbärmlich vorkam.
Angst kroch in ihm hoch, als er allein durch die dunkle Gasse ging. Er spürte nicht nur die vertrauten Schmerzen, sondern auch jenes Schwächegefühl, das ihn wie ein Fluch des Alters heimsuchte. Dann wurde ihm klar, daß Ramses ihm folgen würde!
Er blieb stehen und horchte. Kein Laut in der Dunkelheit. Er ging weiter.
Sie stand im vorderen Zimmer. Sie hatte sich noch nicht entschieden, ob sie diesem schreienden Vogel den Hals umdrehen sollte. Im Augenblick war er still, gluckste und tanzte auf seinem Käfig. Er war wunderschön. Solange er nicht schrie, würde sie ihn am Leben lassen. Das war ein faires Angebot.
Am Leichnam der Tänzerin hatte bereits die Verwesung eingesetzt. Sie hatte ihn in die entfernteste Ecke des Gartens gezerrt und dort ein großes Tuch darüber geworfen. Aber sie konnte ihn immer noch riechen.
Selbst hinten in der Küche konnte sie ihn riechen. Aber das hatte sie nicht daran gehindert, sämtliche Nahrungsmittel im Haus zu verzehren. Ein paar Zitronen, sehr süß, einen Laib altbackenes Brot.
Danach hatte sie ein anderes Sommerkleid angezogen. Dieses war weiß. Es gefiel ihr, weil ihre Haut darin makellos und leicht golden wirkte und es einen noch weiteren Rock mit grö-
ßeren Rüschen hatte, der ihre Füße verbarg.
Die Schmerzen in ihren Füßen waren schlimm. Ebenso die Schmerzen in der Brust. Wenn Lord Rutherford nicht bald kam, würde sie wieder ausgehen. Aber sie hatte keine Ahnung, wie sie ihn finden sollte. Es war schwer genug gewesen, das Haus wiederzufinden. Sie hatte das amerikanische Automobil zum Rand dieses eigentümlichen Stadtteils gefahren, wo die Häuser alt und schmucklos waren, und dann war sie durch die schmalen Straßen geirrt, bis sie die offene Tür gesehen hatte. Jetzt war sie ungeduldig.
Plötzlich hörte sie ein Klopfen.
»Name?« sagte sie auf Englisch.
»Elliott, Lord Rutherford. Mach auf.«
Sogleich öffnete sie die Tür.
»Ich habe lange auf dich gewartet, Lord Rutherford. Hast du mir das Elixier mitgebracht? Weißt du, wo der Mann mit den blauen Augen ist?«
Ihr Englisch versetzte Lord Rutherford in Erstaunen. Sie hob kurz die Schultern, als sie die Tür zumachte. »Ja, ja, deine Sprache ist kein Geheimnis mehr für mich«, sagte sie. »Heute auf der Straße habe ich sie oft gehört, und auch andere Sprachen. Ich habe viele Dinge gelernt. Die Vergangenheit ist das Rätsel, die Welt, an die ich mich nicht erinnern kann!« Plötzlich wurde sie wütend. Warum starrte er sie so an! »Wo ist Ramses!« verlangte sie zu wissen. Sie war sicher, daß das der Name des Mannes mit den blauen Augen war.
»Ich habe mit ihm gesprochen. Ich habe ihm gesagt, was du brauchst.«
»Ja, Lord Rutherford.« Sie ging auf ihn zu. Er wich zurück.
»Hast du Angst vor mir?«
»Ich weiß nicht. Ich will dich beschützen«, flüsterte er.
»Stimmt. Und Ramses, der Blauäugige? Warum kommt er nicht?« Etwas Unerfreuliches, etwas sehr Unerfreuliches. Ein verschwommenes Bild von Ramses, der vor ihr zurückwich.
Von Ramses, der weit weg von ihr stand, während sie schrie.
Etwas mit Schlangengift und… sie schrie und niemand konnte sie hören! Und dann zogen sie ihr das schwarze Tuch übers Gesicht. Sie wandte sich von Lord Rutherford ab. »Wenn ich mich an nichts erinnern würde, wäre es leichter«, flüsterte sie.
»Aber ich sehe es, und dann sehe ich es nicht mehr.« Sie drehte sich zu ihm um.
»Du mußt Geduld haben«, sagte Lord Rutherford. »Er wird kommen.«
»Geduld! Ich will keine Geduld haben. Ich will ihn finden. Sag mir, wo er ist. Ich gehe zu ihm!«
»Ich kann nicht. Das ist unmöglich.«
»Wirklich?« Ihre Stimme wurde zum schrillen Kreischen. Sie sah die Angst in ihm, sah die… was war es? Er war nicht abstoßend, so wie die anderen. Nein, etwas anderes lag in seinem Blick, als er sie anstarrte. »Sag mir, wo ich ihn finden kann!« kreischte sie. Sie machte noch einen Schritt auf ihn zu, drängte ihn an die Wand. »Ich werde dir ein Geheimnis verraten, Lord Rutherford. Ihr seid schwach, ihr alle. Seltsame Wesen! Und es macht mir Spaß, euch zu töten. Es lindert meine Schmerzen, wenn ich euch sterben sehe.«
Sie warf sich auf ihn und packte ihn am Hals. Sie würde die Wahrheit aus ihm herausschütteln und ihn dann töten,
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