Die Mumie
reckte das Kinn hoch und entfernte sich mit steifen, ausgreifenden Schritten. Er fing sogar an zu pfeifen.
Später, als er behaglich auf dem Rücksitz einer Droschke saß, holte er die Brieftasche heraus. Dreihundert Pfund. Nun, das war nicht schlecht. Aber als er das Bündel schmutziger Geldscheine betrachtete, überkam ihn Panik. Es schien, als könnte er weder sprechen noch sich bewegen, und als er zu dem kleinen Fenster der Droschke hinaussah, erblickte er nur den düsteren grauen Himmel über den Dächern trostloser Miets-häuser. Es schien ihm, als könne nichts, was er wollte oder wollen könnte oder jemals besitzen würde, die tiefe Hoffnungslosigkeit vertreiben, die er verspürte.
Dreihundert Pfund. Aber deswegen hatte er den Mann nicht umgebracht. Ha, wer konnte sagen, daß er überhaupt jemanden umgebracht hatte? Sein Onkel Lawrence war in Kairo an einem Herzschlag gestorben. Und was Sharples anbelangte, diesen verabscheuungswürdigen Geldverleiher, dessen Be-kanntschaft er eines Abends im Flint’s gemacht hatte, war es doch wohl so, daß ihn einer seiner Spießgesellen umgebracht hatte. Hatte sich in einer dunklen Straße an ihn herangeschli-chen und ihm ein Messer zwischen die Rippen gestoßen. Na-türlich, so war es gewesen. Wer würde ihn mit diesen üblen Machenschaften in Verbindung bringen?
Er war Henry Stratford, Aufsichtsratsvize von Stratford Shipping, Mitglied einer angesehenen Familie, die bald durch Heirat mit dem Earl of Rutherford verbunden sein würde. Niemand würde es wagen…
Und er würde bei seiner Cousine vorbeischauen. Ihr erklären, daß er ein wenig Pech gehabt hatte. Und sie würde sicher eine angenehme Summe bereitstellen, etwa dreimal soviel wie das, was er gerade besaß, weil sie verstehen würde, daß seine Verluste nur vorübergehend waren. Und es würde eine große Erleichterung sein, alles ins rechte Lot zu bringen.
Seine Cousine, seine einzige Schwester. Einst hatten sie sich geliebt, Julie und er. Geliebt, wie es nur Bruder und Schwester können. Er würde sie daran erinnern. Sie würde ihm keinen Ärger machen, und dann konnte er eine Weile ausruhen.
Das war in letzter Zeit das Schlimmste. Er fand keine Ruhe mehr.
Julie huschte die Treppe hinunter und hielt die Falten ihres Spitzenmorgenmantels gerafft, um nicht zu stolpern. Das braune Haar hing ihr offen über Schultern und Rücken.
Sie sah die Sonne, bevor sie etwas anderes sah, als sie die Bibliothek betrat – ein helles, blendendes Licht erfüllte den verglasten Wintergarten jenseits der offenen Türen, ein Glei-
ßen zwischen den Farnen, im tanzenden Wasser des Springbrunnens und im dichten Gewirr der Blätter unter dem Glasdach.
Lange, schräge Strahlen fielen auf die Maske von Ramses dem Verdammten in seiner schattigen Ecke, auf die dunklen Farben des Orientteppichs und auf die Mumie selbst, die aufrecht in ihrem offenen Sarg stand, wo das straff bandagierte Gesicht und die Gliedmaßen golden erschienen, golden wie Wüstensand in der Mittagssonne.
Das Zimmer wurde vor Julies Augen heller und heller. Die Sonne explodierte plötzlich auf den Goldmünzen Kleopatras auf ihrer schwarzen Samtunterlage. Das Licht brach sich auf der glatten Marmorbüste der Kleopatra, deren halb geschlossene Lider verführerisch erschienen. Es spiegelte sich im durchscheinenden Alabaster der langen Reihe von Gefäßen.
Es erhellte winzige Stücke Gold überall im Zimmer, und die goldenen Lettern zahlreicher ledergebundener Bücher. Es schien auf den tief geprägten Namen »Lawrence Stratford«
auf dem in Samt gebundenen Tagebuch, das auf dem Schreibtisch lag.
Julie blieb stehen, sie spürte, wie die Wärme sie umhüllte. Der dunkle, stickige Geruch verzog sich. Und die Mumie schien sich ebenfalls im strahlenden Licht zu bewegen, als würde auch sie auf die Wärme ansprechen, wie eine Blüte, die sich öffnet. Welch faszinierende Illusion. Selbstverständlich hatte sie sich überhaupt nicht bewegt, und doch wirkte sie irgendwie praller, die kräftigen Schultern und Arme runder, die Finger gestreckt, als sei Leben in ihr.
»Ramses…« flüsterte Julie.
Da war das Geräusch wieder, das Geräusch, das sie in der vergangenen Nacht erschreckt hatte. Aber nein, es war kein Geräusch, kein echtes. Nur das Atmen dieses großen Hauses, das Atmen der Balken und des Mörtels in der Wärme des Morgens. Sie machte einen Moment die Augen zu. Und dann ertönten Ritas Schritte auf dem Flur. Natürlich war es die ganze Zeit Rita
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