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Die Mumie

Die Mumie

Titel: Die Mumie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Zimmer stehen. Er sah sie mit kalten und leblosen Augen an.
    »Und wenn du Alex heiratest, wirst du uns dann auch enter-ben?«
    »Um Himmels willen, Henry. Geh weg und laß mich in Ruhe.«
    In seinem Gesichtsausdruck lag etwas Erstaunliches. Er war nicht mehr jung. Mit seiner Sucht und seinen Schuldgefühlen und seiner Selbsttäuschung sah er uralt aus. Hab Mitleid, sagte sie sich. Was kannst du tun, um ihm zu helfen? Gebt ihm ein Vermögen, und er wird es binnen vierzehn Tagen durch-bringen. Sie drehte sich wieder um und sah auf die winterliche Londoner Straße hinaus.
    Eine frühe Passantin. Die Krankenschwester von gegenüber mit den Zwillingen im Korbkinderwagen. Ein alter Mann, der mit einer Zeitung unter dem Arm dahin eilte. Und der Wachmann, der Wachmann vom Britischen Museum, der unter ihr träge auf der Treppe kauerte. Und weiter unten in der Straße, bei ihrem Onkel Randolph, schüttelte Sally, das Hausmädchen, einen Teppich vor der Eingangstür aus, weil sie sicher war, daß es so früh niemand sehen würde.
    Warum war hinter ihr in dem Doppelzimmer kein Laut zu hö-
    ren? Warum stürmte Henry nicht hinaus und schlug die Eingangstür zu? Vielleicht war er gegangen. Aber nein, plötzlich hörte sie ein leises Geräusch hinter sich, einen Löffel auf Porzellan. Der verdammte Kaffee.
    »Ich verstehe nicht, wie es soweit kommen konnte«, sagte sie und sah weiterhin auf die Straße hinaus. »Treuhandfonds, Gehälter, Dividenden, ihr habt alles gehabt.«
    »Nein, nicht alles, Teuerste«, sagte er. »Du hast alles.«
    Sie hörte, wie der Kaffee eingeschenkt wurde. Um Himmels willen!
    »Hör zu, altes Mädchen«, sagte er mit leiser, gepreßter Stimme. »Ich will diesen Streit ebenso wenig wie du. Komm her.
    Setz dich. Trinken wir eine Tasse Kaffee zusammen wie zivilisierte Menschen.«
    Sie konnte sich nicht bewegen. Die Geste wirkte bedrohlicher als sein Zorn.

    »Komm und trink eine Tasse Kaffee mit mir, Julie.«
    Gab es einen Ausweg? Sie drehte sich mit gesenktem Blick um, ging auf den Tisch zu und sah erst auf, als es unvermeid-bar war. Sie sah Henry vor sich, der eine dampfende Tasse in der ausgestreckten Hand hielt.
    Es war unerklärlich seltsam, wie er ihr die Tasse hinstreckte, wie der leere Ausdruck in seinem Gesicht stand.
    Aber sie verschwendete nicht mehr als eine Sekunde darauf.
    Denn das, was sie hinter ihm sah, bewirkte, daß sie wie angewurzelt stehenblieb. Die Vernunft sprach dagegen, aber ihre Sinne täuschten sie nicht.
    Die Mumie bewegte sich. Der rechte Arm der Mumie war ausgestreckt, die zerrissenen Bandagen hingen herunter. Das Wesen trat aus seinem vergoldeten Sarg! Der Schrei blieb ihr im Halse stecken. Das Ding kam auf sie zu – besser gesagt, auf Henry, der ihm den Rücken zugedreht hatte -, es bewegte sich schlurfend und hielt dabei den Arm von sich gestreckt.
    Staub stieg von dem brüchigen Leinen auf, das daran herunterhing. Der durchdringende Geruch von Staub und Fäulnis erfüllte den Raum.
    »Zum Teufel, was ist mit dir los?« wollte Henry wissen. Aber das Ding war jetzt direkt hinter ihm. Die ausgestreckte Hand schloß sich um Henrys Hals.
    Ihr Schrei blieb ihr im Hals stecken. Versteinert hört sie nur einen stummen Schrei in sich, gleich den hilflosen Schreien in ihren schlimmsten Alpträumen.
    Henry drehte sich um, hob schützend die Hände und ließ die Kaffeetasse scheppernd auf das silberne Tablett fallen. Ein leises Knurren kam ihm über die Lippen, während er gegen das Ding kämpfte, das ihn würgte. Seine Finger verkrallten sich in den schmutzigen Bandagen. Staub stieg in Schwaden empor, als das Ding den linken Arm aus den Bandagen riß und versuchte, sein Opfer mit beiden Händen zu ergreifen.
    Mit einem markerschütternden Schrei schleuderte Henry die Kreatur von sich und ließ sich auf alle viere fallen. Einen Augenblick später war er wieder auf den Beinen. Er rannte durch das vordere Zimmer und über die Marmorfliesen der Eingangsdiele zur Tür.

    Sprachlos und entsetzt starrte Julie die gräßliche Gestalt an, die neben dem Tisch in der Mitte kniete. Das Ding keuchte und rang nach Atem. Sie hörte kaum, wie die Eingangstür aufgerissen und zugeschlagen wurde.
    In ihrem ganzen Leben war noch nie ein Augenblick so bar jeglicher Vernunft gewesen. Schlotternd wich sie vor dem zerlumpten Wesen zurück, diesem toten Ding, das zum Leben erwacht war und jetzt außerstande schien, wieder auf die Fü-
    ße zu kommen.
    Sah es sie an? Leuchteten da Augen zwischen den

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