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Die Mumie

Die Mumie

Titel: Die Mumie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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gewesen… das Geräusch eines anderen Menschen, der ganz nahe war – Herzschlag, Atem, das leise Rascheln von Kleidern.
    »Nun, Miss, ich habe Ihnen gesagt, es gefällt mir nicht, daß dieses Ding im Haus ist«, sagte Rita. War das ihr Federmop, der langsam über die Möbel im Wohnzimmer strich?
    Julie drehte sich nicht um, um nachzusehen. Sie betrachtete die Mumie. Dann ging sie näher hin und sah ihr ins Gesicht.
    Großer Gott, sie hatte gestern abend gar nicht richtig hingese-hen. Nicht so, wie sie sie jetzt in diesem wunderbar warmen Leuchten sah. Es war ein lebender, atmender Mann gewesen, dieses Ding, das nun für ewig in sein Leichengewand gehüllt war.
    »Ich kann Ihnen sagen, Miss, ich bekomme eine Gänsehaut.«
    »Seien Sie nicht albern, Rita. Bringen Sie mir lieber etwas Kaffee.« Sie ging noch näher an das Ding heran. Schließlich war niemand da, der sie aufhalten konnte. Sie konnte es berühren, wenn sie wollte. Sie hörte, wie Rita sich entfernte. Hörte, wie die Küchentür auf und zu gemacht wurde. Dann streckte sie die Hand aus und berührte die Stoffbandagen über dem rechten Arm. Zu weich, zu empfindlich. Und heiß von der Sonne!
    »Nein, das ist nicht gut für dich, oder?« fragte sie und sah dem Ding in die Augen, als wäre es unhöflich, etwas anderes zu tun. »Aber ich will nicht, daß sie dich wegbringen. Du wirst mir fehlen, wenn du nicht mehr hier bist. Aber ich werde nicht zulassen, daß sie dich aufschneiden. Soviel verspreche ich dir.«
    Sah sie wirklich dunkelbraunes Haar unter den Bandagen? Es schien, als wäre es dicht und fest an den Schädel gedrückt, was den Eindruck von Kahlsein vermittelte. Aber es war die ganze Ausstrahlung, die es ihr antat und von den Einzelheiten ablenkte. Das Ding besaß eine wirkliche Persönlichkeit, wie eine kunstvolle Skulptur. Der große, breitschultrige Ramses mit dem gesenkten Kopf und den zu einer Geste der Resignation gefalteten Händen.
    Die Worte in dem Tagebuch fielen ihr mit schmerzhafter Klar-heit wieder ein.
    »Du bist unsterblich, Geliebter«, sagte sie. »Mein Vater hat dafür gesorgt. Du magst uns verfluchen, weil wir dein Grab geöffnet haben, aber Tausende werden kommen, dich zu sehen, Tausende werden deinen Namen aussprechen. Du wirst ewig leben…«
    So seltsam, daß sie den Tränen nahe war. Vater tot. Wie dieses Ding, das ihm soviel bedeutet hatte. Vater in einem unbe-schrifteten Grab in Kairo, wie er es gewünscht hatte, und Ramses der Verdammte war das Stadtgespräch von London.
    Plötzlich wurde sie durch Henrys Stimme aufgeschreckt.
    »Du redest mit dem verdammten Ding. Genau wie dein Vater.«
    »Großer Gott, ich habe nicht gewußt, daß du hier bist! Wo kommst du her?«

    Er stand im Bogen zwischen den beiden Salons. Das lange Cape hing lose über einer Schulter. Unrasiert, sehr wahrscheinlich betrunken. Und sein Lächeln. Beängstigend.
    »Ich soll auf dich aufpassen«, sagte er, »weißt du nicht mehr?«
    »Ja, natürlich. Ich bin sicher, du bist hoch erfreut.«
    »Wo ist der Schlüssel zur Hausbar? Die ist verschlossen, hast du das gewußt? Warum macht Oscar das?«
    »Oscar ist bis morgen weg. Vielleicht solltest du sowieso lieber Kaffee trinken. Das würde dir guttun.«
    »Wirklich, meine Teuerste?« Er nahm das Cape ab, während er mit arrogantem Gesichtsausdruck auf sie zukam und das Ägyptische Zimmer mit mißbilligenden Blicken bedachte. »Du läßt mich nie im Stich, richtig?« fragte er, wobei sich wieder dieses verbitterte Lächeln auf seinem Gesicht zeigte. »Meine Spielkameradin der Kindheit, meine Cousine, meine kleine Schwester! Ich hasse Kaffee. Ich möchte etwas Port oder Sherry.«
    »So etwas habe ich nicht«, sagte sie. »Geh nach oben und schlaf dich aus, ja?«
    Rita war zur Tür gekommen und wartete auf Anweisungen.
    »Für Mr. Stratford bitte auch Kaffee, Rita«, sagte Julie, weil er sich nicht bewegt hatte. Es war eindeutig, daß er nicht die Absicht hatte, irgendwohin zu gehen. Tatsächlich sah er die Mumie an, als hätte sie ihn erschreckt. »Hat Vater wirklich mit ihr gesprochen?« fragte sie. »So wie ich?«
    Er antwortete nicht gleich. Er wandte sich ab und begutachtete die Alabastergefäße, und selbst seine Haltung war arrogant.
    »Ja, er hat damit gesprochen, als könnte sie antworten. Und ausgerechnet Latein. Wenn du mich fragst, war dein Vater schon eine Zeitlang nicht mehr normal. Zu viele Jahre in der Wüstenhitze, wo er Geld für Leichen und Statuen und Trinkge-fäße und Plunder

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