Die Mumie
großen, sanften blauen Augen.
Großer Gott, du verlierst den Verstand! Vergiß, daß es hübsch ist! Es hat gerade versucht, Henry zu ermorden! Sie schnellte rasch um den Tisch herum und tastete mit ausgestreckten Händen hinter sich, während sie auf die Tür des vorderen Salons zuging.
Es blieb stehen, als es beim Tisch angekommen war. Es sah auf die silberne Kaffeekanne und die umgestürzte Tasse hinunter. Es hob etwas von dem Tablett hoch. Was war es? Ein zusammengeknülltes Taschentuch. Hatte Henry es dort liegengelassen? Es deutete unzweifelhaft auf den verschütteten Kaffee, und dann sprach es mit sanfter, voller und eindeutig männlicher Stimme:
»Komm und trink eine Tasse Kaffee mit mir, Julie!« sagte es.
Perfekter britischer Akzent! Vertraute Worte! Julie spürte, wie ihr der Schreck in die Glieder fuhr. Dies war keine Einladung von dem Ding. Es ahmte Henry nach. Dieselbe präzise Intona-tion. Genau das gleiche hatte Henry gesagt!
Es hielt das Taschentuch hoch. Weißes glitzerndes Pulver, als wäre es voll winziger Kristalle. Es deutete auf die ferne Reihe der Alabastergefäße. Einem Gefäß fehlte der Deckel! Dann sprach es wieder mit diesem makellosen, steifen englischen Akzent:
»Trink deinen Kaffee, Onkel Lawrence.«
Ein Stöhnen entrang sich ihren Lippen. Der Sinn war unmiß-
verständlich. Sie stand mit aufgerissenen Augen da, und die Worte hallten in ihrem Kopf. Henry hatte ihren Vater vergiftet, und diese Kreatur war Zeuge gewesen. Henry hatte versucht, sie zu vergiften. Sie versuchte inständig, es zu leugnen. Sie versuchte, einen Grund zu finden, daß es nicht so sein konnte.
Aber sie wußte, daß es so war. So sicher, wie sie wußte, daß dieses Ding vor ihr lebte und atmete und Raum einnahm, und daß es sich um den unsterblichen Ramses handelte, der in diesen zerlumpten Bandagen erwacht war und mit der Sonne im Rücken vor ihr im Salon stand.
Ihre Beine versagten. Sie konnte es nicht mehr verhindern.
Dunkelheit umfing sie. Und als sie spürte, wie sie nach unten glitt, sah sie die hochgewachsene Gestalt auf sie zukommen und spürte, wie kräftige Arme sie auffingen und emporhoben und festhielten, so daß sie sich fast sicher fühlte.
Sie schlug die Augen auf und sah ihm ins Gesicht. In sein Gesicht. Sein wunderschönes Gesicht. Sie hörte Rita in der Diele schreien. Und die Dunkelheit hatte sie vollkommen eingehüllt.
»Himmel, was sagst du da!« Randolph war noch nicht ganz wach. Er wühlte sich aus dem Wirrwarr der Laken und griff nach seinem Morgenmantel aus Seide am Fußende des Bettes. »Willst du damit sagen, du hast deine Cousine allein mit diesem Ding im Haus gelassen?«
»Ich will dir sagen, daß es versucht hat, mich umzubringen!«
brüllte Henry wie ein Irrer. »Das will ich dir sagen! Das verdammte Ding ist aus seinem Sarg gestiegen und hat versucht, mich mit der rechten Hand zu erwürgen!«
»Verdammt, wo sind meine Hausschuhe! Sie ist allein in dem Haus, du Narr!«
Er lief barfuß auf den Flur und die Treppe hinunter.
»Beeil dich, du Schwachkopf!« schrie er seinen Sohn an, der oben auf der Treppe stand.
Sie schlug die Augen auf. Sie saß auf dem Sofa, und Rita klammerte sich an sie. Rita tat ihr weh. Rita gab leise, wim-mernde Laute von sich. Und da war die Mumie, genau da stand sie. Julie hatte sich nichts eingebildet. Nicht die dunklen braunen Locken, die ihm in die glatte, hohe Stirn gefallen waren. Nicht die sanften blauen Augen. Er hatte noch mehr der brüchigen Bandagen weggerissen. Er war bis zur Taille nackt, ein Gott, so schien es in diesem Augenblick. Besonders mit diesem Lächeln. Diesem gütigen und gewinnenden Lächeln.
Sein Haar schien sich zu bewegen, als würde es vor ihren Augen wachsen. Es war dichter und üppiger als vorher. Aber was um Gottes willen ließ sie das Haar dieser Kreatur bewundern?
Er kam ein wenig näher. Seine nackten Füße waren von den hinderlichen Bandagen befreit.
»Julie«, sagte er leise.
»Ramses«, flüsterte sie zurück.
Die Kreatur nickte, das Lächeln wurde breiter. »Ramses!«
sagte er mit Nachdruck und machte eine knappe Verbeugung vor ihr.
Großer Gott, dachte sie, er ist nicht bloß schön, er ist der allerschönste Mann, den ich jemals gesehen habe.
Immer noch benommen zwang sie sich, aufzustehen. Rita klammerte sich an sie, aber sie befreite sich von Rita. Und dann nahm die Mumie – der Mann – ihre Hand und stützte sie.
Die Finger waren warm, staubig. Sie stellte fest, daß sie ihm unverwandt
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