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Die Mumie

Die Mumie

Titel: Die Mumie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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zerrissenen Bandagen? Blaue Augen? Es streckte die Hände nach ihr aus. Ihr Körper wurde von einem kalten, unwillkürlichen Beben geschüttelt. Eine Woge der Benommenheit spülte über sie hinweg. Bloß nicht ohnmächtig werden. Was immer geschieht, bloß nicht ohnmächtig werden.
    Plötzlich wandte es sich ab. Es sah eindeutig zu seinem Sarg hin, oder galt sein Blick dem Wintergarten, wo das Licht durch das Dach einfiel? Erschöpft lag es auf dem Teppich, dann schien es die Hände nach der strahlenden Flut der Morgensonne auszustrecken.
    Sie konnte es wieder atmen hören. Es lebte! Großer Gott, es lebte! Es bemühte sich, vorwärts zu kriechen, es hob den mächtigen Oberkörper nur ein wenig vom Teppich und schob sich mit unsicheren Bewegungen vorwärts.
    Aus dem Schatten des Salons kroch es Zentimeter um Zentimeter von ihr weg, bis es die fernen Sonnenstrahlen erreichte, die in die Bibliothek fielen. Dort hielt es inne und atmete tief durch, als würde es nicht Luft einatmen, sondern Licht. Es stützte sich ein wenig höher auf die Ellbogen und kroch mit größerer Schnelligkeit weiter in Richtung Wintergarten. Leinenbandagen schleiften hinter seinen Füßen her. Ein staubiger Pfad blieb auf dem Teppich zurück. Die Bandagen um seine Arme zerfielen. Stoffetzen fielen ab und schienen im Licht zu verfallen.
    Sie konnte nicht anders, als ihm zu folgen. In sicherer Distanz verfolgte sie, wie sich das Ding langsam dem Wintergarten nä-
    herte.
    Es schleppte sich in die Sonne, und plötzlich verweilte es neben dem Springbrunnen und drehte sich auf den Rücken. Eine Hand streckte sich der Glasdecke entgegen, die andere sank schlaff auf die Brust.
    Julie betrat lautlos den Wintergarten. Immer noch unbe-herrscht schlotternd näherte sie sich, bis sie direkt auf das Ding hinunter sah.
    Der Körper wurde im Sonnenlicht voller! Er wurde vor ihren Augen noch kräftiger! Sie konnte hören, wie die Bandagen ihn freigaben. Sie konnte sehen, wie regelmäßige Atemzüge die Brust hoben und senkten.
    Und das Gesicht, mein Gott, das Gesicht. Sie sah große, strahlende blaue Augen unter den dünnen Bandagen. Ja, gro-
    ße und wunderschöne blaue Augen. Mit einer weiteren Bewegung riß es die Bandagen vom Kopf und gab den weichen Schopf braunen Haares frei.
    Dann kam es einigermaßen anmutig auf die Knie, griff mit einer bandagierten Hand in den Springbrunnen und führte funkelndes Wasser zu den Lippen. Es trank das Wasser mit tiefen, seufzenden Zügen. Dann hörte es auf, drehte sich zu ihr um und wischte noch mehr der dicken aschefarbenen Stoffschichten vom Gesicht.
    Ein Mann sah sie an! Ein intelligenter Mann mit blauen Augen sah sie an!
    Der Schrei stieg wieder in ihr hoch und blieb erneut stecken.
    Nur ein leises Seufzen entwich ihr. Oder war es ein Stöhnen?
    Sie stellte fest, daß sie einen Schritt zurückgewichen war. Das Ding kam auf die Füße.
    Es erhob sich nun zu voller Größe. Gelassen sah es sie an.
    Die Finger beseitigten die letzten brüchigen Bandagen vom Kopf, als wären es Spinnweben. Ja, volles dunkelbraunes, lockiges Haar. Es fiel gerade über die Ohren und sanft in die Stirn. Und die Augen waren faszinierend, als es sie ansah!
    Großer Gott, man stelle es sich vor! Faszinierend, als es sie ansah!
    Sie würde ohnmächtig werden. Sie hatte davon gelesen. Sie wußte, worum es sich handelte, obschon es ihr selbst nie passiert war. Aber die Beine gaben buchstäblich unter ihr nach, und alles wurde düster. Nein. Aufhören! Sie konnte nicht ohnmächtig werden, während dieses Ding sie anstarrte.
    Dies war eine zum Leben erwachte Mumie!
    Zitternd zog sie sich ins Ägyptische Zimmer zurück. Ihr ganzer Körper war schweißgebadet, die Hände hatte sie in den Spitzenmorgenmantel gekrallt. Es beobachtete sie, als wäre es tatsächlich neugierig auf ihre Reaktion. Dann entfernte es noch mehr Bandagen von Hals und Schultern und Brust. Von der breiten, nackten Brust. Sie machte die Augen zu und dann langsam wieder auf. Es war immer noch da mit seinen kräftigen Armen. Staub fiel aus seinem üppigen braunen Haar.
    Es kam einen Schritt auf sie zu. Sie wich zurück. Es kam noch einen Schritt näher. Sie wich weiter zurück. Sie wich durch die ganze Bibliothek zurück, und plötzlich spürte sie den Mitteltisch des zweiten Salons hinter sich. Ihre Hände ertasteten das silberne Tablett.
    Es folgte ihr mit lautlosen, gleichmäßigen Schritten – dieses Ding, dieser wunderschöne Mann mit dem prachtvollen Körper und den

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