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Die Mumie

Die Mumie

Titel: Die Mumie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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antwortete nicht. Er dachte an das Hotelzimmer in Paris und Henrys kläglichen Gesichtsausdruck, als sein Erpres-sungsversuch fehlgeschlagen war. Seltsam, wie deutlich er sich an alles erinnerte, bis hin zum Mobiliar des Zimmers.
    Später, als er den Diebstahl des Zigarettenetuis und Geldes festgestellt hatte, war er dagesessen und hatte gedacht: Daran muß ich mich erinnern; ich muß mich an alles erinnern. So etwas darf mir nicht noch einmal passieren.
    »Das mit dem Kollier tut mir leid«, flüsterte er und dachte plötzlich betroffen, daß er seine Frau bestohlen hatte, so wie Henry ihn. Er lächelte sie an und zwinkerte, flirtete sogar ein bißchen, wie immer. Er zuckte mit den Schultern.
    Dies alles nahm sie mit einem spöttischen kleinen Lächeln zur Kenntnis. Vor Jahren hätte sie zu ihm gesagt: Spiel nicht den bösen Buben. Die Tatsache, daß sie es nicht mehr sagte, bedeutete nicht, daß sie ihn nicht mehr charmant fand.
    »Randolph hat das Geld, das ich ihm geliehen habe«, sagte er jetzt etwas ernster.
    »Nicht unbedingt«, flüsterte sie. »Überlaß es mir.« Und dann stand sie langsam auf und wartete. Sie wußte, er konnte beim Aufstehen ihre Hilfe brauchen. Und so sehr es ihn demütigte, er wußte es auch.
    »Wohin gehst du?« fragte sie, als sie ihm die Hand entgegen-streckte.
    »Zu Samir Ibrahaim ins Museum.«
    »Schon wieder diese Mumie.«
    »Henry hat eine überaus merkwürdige Geschichte erzählt…«

    »Alex, Liebling«, sagte sie und nahm seine beiden Hände in ihre. »Mr. Ramsey war ein guter Freund von Vater.«
    »Aber du bist allein…« Er sah ihren weißen Morgenmantel mißbilligend an; und wenn schon.
    »Alex, ich bin ein modernes Mädchen. Zweifle nicht an mir!
    Und jetzt geh und laß mich für meinen Gast sorgen. In ein paar Tagen essen wir zusammen, dann erkläre ich alles…«
    »Julie, ein paar Tage!«
    Sie küßte ihn rasch auf die Lippen und drängte ihn zur Eingangstür. Er warf noch einmal einen vielsagenden Blick durch die Diele in Richtung Wintergarten.
    »Alex, geh jetzt. Der Mann kommt aus Ägypten; ich soll ihm London zeigen. Und ich bin in Eile. Bitte, liebster Schatz, tu, was ich dir sage.«
    Sie schob ihn förmlich zur Tür hinaus. Er war zu sehr Gentleman, um weitere Einwände zu erheben. Er warf ihr diesen un-schuldigen, fassungslosen Blick zu, und sagte dann leise, daß er sie am Abend anrufen würde, wenn er durfte.
    »Aber natürlich«, sagte sie. »Du bist ein Schatz.« Sie warf ihm mit den Fingerspitzen einen Kuß zu und schloß sofort die Tür.
    Sie drehte sich um, lehnte einen Augenblick an der Wand und sah selbst durch die Diele zur Glastür. Sie sah Rita vorüberei-len. Sie hörte das Geräusch des Kessels in der Küche. Ein herrlicher Duft drang aus der Küche.
    Ihr Herz schlug wieder heftig. Alle möglichen Gedanken schossen ihr durch den Kopf, ohne jedoch eine unmittelbare emotionale Wirkung zu hinterlassen. Im Augenblick, in diesem außergewöhnlichen Augenblick, zählte nur, daß Ramses da war. Der unsterbliche Mann war da. Er befand sich im Wintergarten.
    Sie ging durch die Diele, blieb in der Tür stehen und sah ihn an. Er trug immer noch Vaters Morgenmantel, aber das Hemd hatte er mit einem mißbilligenden Blick auf den steifen, ge-stärkten Stoff ausgezogen. Und sein Haar war jetzt gänzlich voll, eine dichte, glänzende Mähne aus sanften Locken, die ihm gerade bis unter die Ohrläppchen hingen. Eine dicke Lok-ke fiel ihm immer wieder in die Stirn.
    Auf dem weißen Weidentisch standen Schüsseln mit damp-fendem Essen. Während er die Ausgabe des Punch las, die er vor seinem Teller aufgestützt hatte, nahm er mit der rechten Hand abwechselnd vom Fleisch, vom Obst, vom Brot zu seiner linken und vom Brathähnchen vor sich. Es grenzte fast an ein Wunder, wie wählerisch er war, wie er aß, ohne Messer und Gabel anzurühren, obwohl die kostbaren Verzierungen des alten Silbers ihm gefallen hatten.
    Er hatte die vergangenen zwei Stunden unaufhörlich gegessen und gelesen. Er hatte Mengen verschlungen, die sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Es schien, als tankte er auf. Er hatte vier Flaschen Wein getrunken, zwei Flaschen Mineralwasser, die ganze Milch, und jetzt trank er Brandy.
    Er war nicht betrunken, im Gegenteil, er wirkte außergewöhnlich nüchtern. Er hatte ihr Englisch/Ägyptisches Wörterbuch so schnell überflogen, daß ihr fast schwindlig geworden war, wenn sie ihm beim Umblättern der Seiten zugesehen

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