Die Mumie
Trotz seines Lächelns sah sie den Schmerz, und sie sah auch ein unmerkliches Zucken der Lider, als er darüber nachdachte und offenbar versuchte, sich emotional davon zu distanzieren. Jetzt schaute er sich im Zimmer um, als sähe er es zum ersten Mal.
Er betrachtete die Decke, dann den Boden, dann die Büste der Kleopatra. Seine Augen waren so groß wie zuvor, sein Lächeln sanft und einnehmend, aber etwas war aus seinem Gesicht verschwunden. Die Lebhaftigkeit. Die war völlig verschwunden.
Als er sie wieder ansah, sah sie, daß seine Augen feucht waren. Sie konnte es nicht ertragen. Sie ergriff seine linke Hand.
Seine Finger legten sich um ihre und drückten sie zärtlich.
»Sehr viele Jahre, Julie«, sagte er. »Sehr viele Jahre. Die Welt von mir nicht gesehen. Spreche ich verständlich?«
»O ja, durchaus«, sagte sie.
Er sah sie an und flüsterte leise, fast ehrfürchtig: »Sehr, sehr viele Jahre, Julie.« Und dann lächelte er. Und sein Lächeln wurde breiter. Und seine Schultern fingen an zu beben. Und ihr wurde klar, daß er lachte. »Zweitausend Jahre, Julie.« Er lachte lauthals. Und der Ausdruck unbändiger Erregung stellte sich wieder ein, der Ausdruck übersteigerter Vitalität. Sein Blick glitt langsam zur Büste der Kleopatra. Er betrachtete sie lange, dann sah er Julie an, und Neugier und Optimismus waren wieder da. Denn darum handelte es sich, um einen unerschöpflichen, unerschütterlichen Optimismus.
Sie wollte ihn küssen. Der Drang war so übermächtig, daß er sie selbst in Erstaunen setzte. Es lag nicht nur an der Schönheit seines Gesichts, es lag am tiefen Klang seiner Stimme, dem Ausdruck des Leids in seinen Augen und der Art, wie er ihr zulächelte und die Hände ausstreckte und ihr so ehrfürchtig übers Haar strich. Schauer liefen ihr den Rücken hinab.
»Ramses ist unsterblich«, sagte sie. »Ramses besitzt vitam eternam.«
Er lächelte zustimmend. Ein Nicken. »Ja«, sagte er. »Vitam eternam.«
War es Liebe, was sie für diesen Mann empfand? Oder war es lediglich eine so überwältigende Zuneigung, daß diese jedes andere Gefühl aus ihrem Denken verdrängte? Selbst Henry und das, was er getan hatte, daß er der Mörder ihres Vaters war?
Henry mußte warten. Die Gerechtigkeit mußte warten. Es sei denn, sie hätte Henry selbst getötet, und das war undenkbar.
Nur dieser Mann, der vor ihr saß, zählte. Ihr Haß auf Henry mußte warten. Henry war Gottes Gerechtigkeit näher als jeder andere Metisch, den sie kannte.
Und sie stand da, sah in diese strahlenden blauen Augen, spürte die Wärme der Hand, die die ihre hielt, und fühlte sich wie durch ein Wunder in die Zukunft dieses Mannes hineingezogen.
Von der Straße ertönte Lärm. Es konnte nur ein Auto gewesen sein. Er hatte es gehört, kein Zweifel, aber er wandte den Blick nur sehr langsam von ihr ab und sah zum vorderen Fenster.
Dann legte er ihr überaus behutsam den Arm auf die Schultern und führte sie in den vorderen Teil des Hauses.
Was für ein Gentleman; was für ein seltsam galantes Wesen.
Er sah durch die Spitzenvorhänge und mußte ein für ihn sicherlich erschreckendes Schauspiel erblicken – ein italienischer Roadster mit laufendem Motor, zwei junge Männer auf dem Vordersitz, die beide einer jungen Dame zuwinkten, die auf dem gegenüberliegenden Gehweg ging. Der Fahrer drück-te auf die Hupe, auf ein garstig lautes Ding, das Ramses zutiefst erschreckte. Aber er sah weiter auf das knarrende, fehlzündende, offene Automobil – nicht ängstlich, sondern voller Neugier. Als sich das Ding in Bewegung setzte und dann die Straße entlang fuhr, wich seine Neugier völliger Fas-sungslosigkeit.
»Automobil«, sagte sie. »Fährt mit Benzin. Eine Maschine.
Eine Erfindung.«
»Automobil!« Er ging unverzüglich zur Eingangstür und riß sie auf.
»Nein, du mußt mitkommen und dich richtig ankleiden«, sagte sie. »Kleidung, angemessene Kleidung.«
»Hemd, Krawatte, Hose, Schuhe«, sagte er.
Sie lachte. Er bedeutete ihr mit einer Geste zu warten. Sie sah, wie er ins Ägyptische Zimmer ging und die lange Reihe der Alabastergefäße betrachtete. Er nahm eines in die Hand, drehte es um und öffnete ein kleines Geheimfach am Boden.
Daraus entnahm er mehrere Goldmünzen. Diese brachte er ihr.
»Kleidung«, sagte er.
Sie warf einen kurzen Blick darauf. Es waren weitere makellose Münzen mit dem Bildnis der Kleopatra.
»O nein«, sagte sie, »die sind so wertvoll, daß wir sie nicht weggeben dürfen. Steck sie
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