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Die Mumie

Die Mumie

Titel: Die Mumie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Innenpolitik. Zu viele Abstraktionen, aber er lauschte lediglich dem Klang der Silben. Er nahm ihr die Zeitschrift ungeduldig weg und antwortete: »Danke.«
    »Ausgezeichnet«, sagte sie. »Du lernst verblüffend schnell.«
    Dann machte er eine Reihe von eigentümlichen Gesten. Er griff sich an die Schläfe, die Stirn, als wollte er auf sein Gehirn hindeuten. Und dann berührte er sein Haar und seine Haut.
    Was versuchte er ihr zu sagen? Daß sein Gehirn so schnell reagierte wie Haar und Körper auf das Sonnenlicht?
    Er drehte sich zum Tisch um. »Wurst«, sagte er. »Rindfleisch.
    Brathähnchen. Bier. Milch. Wein. Gabel. Messer. Serviette.
    Bier. Mehr Bier.«
    »Ja«, sagte sie. »Rita, bringen Sie ihm noch mehr Bier. Er mag Bier.« Sie hob eine Falte ihres Morgenmantels. »Spitzen«, sagte sie. »Seide.«
    Er gab ein leises Summen von sich.
    »Bienen!« sagte sie. »Genau. Oh, du bist so klug.«
    Er lachte. »Wiederholen«, sagte er.
    »Klug.« Jetzt deutete sie auf ihren Kopf, tok, tok, tok. Das Gehirn, Denken.
    Er nickte. Er deutete auf das Schälmesser mit seinem silbernen Griff. Er nahm es, als würde er um Erlaubnis bitten, dann steckte er es in die Tasche. Danach bat er sie, ihm ins Ägyptische Zimmer zu folgen. Er studierte die alte, verblaßte Welt-karte in ihrem schweren Rahmen und deutete auf England.
    »Ja, England. Britannien«, sagte sie. Sie deutete auf Amerika.
    »Die Vereinigten Staaten«, sagte sie. Dann benannte sie Kontinente, Meere. Zuletzt auch Ägypten und den Nil, eine dünne Linie auf dieser kleinen Karte. »Ramses, König von Ägypten«, sagte sie. Sie deutete auf ihn.
    Er nickte. Aber er wollte noch etwas wissen. Er artikulierte seine Frage sehr genau:
    »Zwanzigstes Jahrhundert. Was bedeutet Anno Domini?«

    Sie sah ihn sprachlos an. Er hatte die Geburt Christi verschla-fen! Er konnte natürlich unmöglich wissen, wie lange dieser Schlaf gedauert hatte. Daß er ein Heide war, störte sie nicht, sondern faszinierte sie eher. Aber sie fürchtete den Schock, den sie ihm zufügen mußte, wenn sie seine Frage beantwortete.
    Römische Zahlen, wo war das Buch? Sie nahm Plutarchs Bioi paralleloi vom Regal ihres Vaters und fand das Erscheinungs-datum in römischen Ziffern. Perfekt.
    Sie nahm ein Blatt Papier vom Schreibtisch ihres Vaters, tauchte den Federhalter ein und schrieb hastig die korrekte Jahreszahl darauf. Aber wie sollte sie ihm den Anfang des Systems begreiflich machen?
    Kleopatra war nahe dran, aber aus offensichtlichen Gründen fürchtete sie, Kleopatras Namen zu benützen. Dann fiel ihr die einfachste Erklärung ein.
    Sie schrieb in Großbuchstaben den Namen Oktavius Cäsar.
    Er nickte. Darunter schrieb sie eine römische Eins. Dann zog sie eine lange horizontale Linie zum rechten Rand der Seite und schrieb ihren eigenen Namen, Julie, und die Jahreszahl in römischen Buchstaben. Und danach das lateinische Wort: annum.
    Er erbleichte. Er betrachtete das Blatt Papier lange Zeit, und dann kehrte die Farbe in seine Wangen zurück. Kein Zweifel, daß er sie verstanden hatte. Seine Miene wurde ernst, dann seltsam nachdenklich. Er schien über den Schock nachzusin-nen, statt ihn zu verarbeiten. Sie schrieb das Wort Jahrhundert, dann die römische Zahl für einhundert, dann das Wort annus. Er nickte ein wenig ungeduldig, ja, ja, er hatte verstanden.
    Dann verschränkte er die Arme und ging langsam im Zimmer herum. Sie konnte nicht einmal ahnen, was er dachte.
    »Eine lange Zeit«, flüsterte sie. »Tempus… tempus fugit!« Sie wurde ein wenig verlegen. Die Zeit vergeht wie im Flug? Aber mehr Latein fiel ihr nicht ein. Er lächelte ihr zu. Hatte man das etwa schon vor zweitausend Jahren gesagt?
    Er kam zum Schreibtisch, nahm ihr den Federhalter aus der Hand und zeichnete sorgfältig die ägyptischen Schriftzeichen für seinen Namen, Ramses der Große. Dann zog auch er eine horizontale Linie fast bis zum Rand des Blatts, wo er Kleopatra schrieb. In die Mitte dieser Linie schrieb er die römische Ziffer M, die tausend Jahre bedeutete; und dann die arabische Zahl, die sie ihm erst vor einer Stunde beigebracht hatte.
    Er ließ ihr einen Augenblick Zeit, das zu lesen. Und dann schrieb er unter seinen Namen in arabischen Ziffern 3000.
    »Ramses ist dreitausend Jahre alt«, sagte sie und deutete auf ihn. »Und Ramses weiß es.«
    Er nickte wieder und lächelte. Wie war sein Gesichtsausdruck? Traurig, resigniert, oder bloß nachdenklich? Ein großer, dunkler Schmerz war in seinen Augen zu sehen.

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