Die Mumie
weg. Du bist mein Gast. Ich werde mich um alles kümmern.«
Sie nahm ihn an der Hand und führte ihn die Treppe hinauf.
Wieder sah er alles um sich herum genau an. Nur blieb er dieses Mal stehen und studierte den Porzellanfirlefanz auf dem Sims. Unter dem Porträt ihres Vaters in der oberen Diele blieb er stehen. »Lawrence«, sagte er. Dann sah er sie mit stechendem Blick an: »Henry? Wo ist Henry?«
»Ich kümmere mich um Henry«, sagte sie. »Die Zeit und die Gerichte… judicium … die Gerichtsbarkeit wird sich um Henry kümmern.«
Er deutete an, daß er mit dieser Antwort nicht zufrieden war.
Er holte das Schälmesser aus der Tasse und strich mit dem Daumen über die Klinge. »Ich, Ramses, werde Henry töten.«
»Nein!« Sie schlug die Hände vor die Lippen. »Nein. Gerichtsbarkeit. Gesetz!« sagte sie. »Wir sind Menschen mit Gesetzen und Gerichten. Wenn die Zeit gekommen ist…« Aber sie verstummte. Sie konnte nicht mehr sagen. Tränen traten ihr in die Augen. Alles kam wieder in ihr hoch. Henry hatte Vater diesen Triumph, dieses Geheimnis, diesen Augenblick gestohlen.
»Nein«, sagte sie, als er versuchte, sie zu trösten.
Er legte eine Hand auf die Brust. »Ich, Ramses, bin die Gerechtigkeit«, sagte er. »König, Gericht, Gerechtigkeit.«
Sie schniefte und versuchte, den Tränen Einhalt zu gebieten.
Sie wischte sich die Lippen mit dem Handrücken ab.
»Du lernst die Worte schnell«, sagte sie, »aber du kannst Henry nicht töten. Ich könnte nicht leben, wenn du Henry töten würdest.«
Plötzlich nahm er ihr Gesicht zwischen die Hände, zog sie zu sich und küßte sie. Es war ein kurzer und dennoch atemberaubender Kuß. Sie wirbelte herum und drehte ihm den Rükken zu.
Rasch ging sie zum Ende des Flurs und machte die Tür zum Zimmer ihres Vaters auf. Sie drehte sich nicht um, während sie Kleidungsstücke aus dem Schrank holte. Sie legte Hemd, Hosen und Gürtel zurecht. Socken und Schuhe. Sie deutete auf die Bilder an der Wand, die alten Fotografien, die ihr Vater in so hohen Ehren gehalten hatte. Bilder von sich und Elliott und Randolph und anderen Freunden aus der Zeit in Oxford bis in die Gegenwart. Der Mantel, sie hatte den Mantel vergessen. Sie holte auch diesen heraus und legte ihn auf das Bett.
Dann, und erst dann sah sie auf. Er stand in der Tür und beobachtete sie. Sein Morgenmantel war jetzt bis zur Taille offen.
Die Art, wie er dastand, hatte eindeutig etwas Primitives an sich – Arme verschränkt, Beine gespreizt, und doch schien dies im Augenblick der Gipfel der Kultiviertheit.
Jetzt kam er ins Zimmer und sah sich mit derselben Neugier um, mit der er alles in sich aufnahm. Er sah die Fotografien ihres Vaters mit Randolph und Elliott in Oxford. Er drehte sich um und bewunderte die Kleidung auf dem Bett. Er verglich die Kleidungsstücke eindeutig mit denen der Männer auf den Bildern.
»Ja«, sagte sie, »so solltest du dich kleiden.«
Sein Blick fiel auf das Archaeology Journal auf der Kommode.
Er hob es auf, blätterte es durch und hielt bei einem ganzseiti-gen Stich der großen Pyramide von Gizeh inne, der auch das Hotel Mena zeigte. Was, um alles in der Welt, dachte er? Er schlug es zu.
»RRRR… ke… ologie«, sagte er. Er lächelte mit der ganzen Unschuld eines Kindes.
Seine Augen funkelten eindeutig, als er sie ansah. Seine breite Brust war leicht behaart. Sie mußte auf der Stelle hier raus.
»Zieh dich an, Ramses. Wie auf den Bildern. Ich helfe dir spä-
ter, wenn du nicht zurecht kommst.«
»Danke, Julie Stratford«, sagte er mit diesem perfekten britischen Akzent. »Ich kleide mich alleine an. Das habe ich schon früher getan.«
Natürlich. Sklaven. Er hatte immer welche gehabt, oder nicht?
Wahrscheinlich Dutzende. Nun, da konnte man nichts machen. Sie konnte ihm diesen Morgenmantel nicht selbst aus-ziehen. Ihre Wangen brannten. Sie konnte es fühlen. Sie eilte hinaus und machte leise die Tür zu.
Henry war so betrunken wie noch nie in seinem Leben. Er hatte die Flasche Scotch geleert, die er ohne Erlaubnis von Elliott mitgenommen hatte, und der Brandy war wie Wasser durch die Kehle gelaufen. Aber er hatte nicht geholfen.
Er rauchte einen ägyptischen Glimmstengel nach dem anderen und schwängerte Daisys Wohnung mit dem durchdringenden Geruch, an den er sich in Kairo so gewöhnt hatte. Und dabei mußte er nur an Malenka denken und wünschte sich, bei ihr zu sein, obwohl er gleichzeitig wünschte, er hätte nie einen Fuß auf ägyptischen Boden
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