Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Mumie

Die Mumie

Titel: Die Mumie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
gesetzt, hätte nie die Kammer im Berghang betreten, wo sein Onkel Lawrence über einem Haufen Schriftrollen gebrütet hatte.
    Das Ding war am Leben gewesen! Das Ding hatte gesehen, wie er das Gift in Lawrences Tasse geschüttet hatte. Jetzt konnte kein Zweifel mehr an den offenen Augen des Dings unter den Bandagen bestehen, kein Zweifel, daß das Ding in Julies Haus aus seinem Sarg gestiegen und die schmutzige Hand um seinen Hals gelegt hatte.
    Keiner begriff die Gefahr, in der er schwebte. Niemand begriff sie, weil niemand die Motive des Dings kannte! Die Gründe für seine schäbige Existenz waren unwichtig! Das Ding wußte, was er getan hatte. Und diesen Reginald Ramsey konnte er zwar nicht wirklich mit der schmutzigen Kreatur in Verbindung bringen, die ihn erwürgen wollte, aber er wußte einfach, daß sie ein und derselbe waren. Würde der Mann sich wieder in die dreckigen Stoffbandagen wickeln, wenn er kam, um ihn zu holen?
    Herrgott! Er zitterte am ganzen Leib. Er hörte, wie Daisy etwas sagte, und als er aufsah, stand sie am Kaminsims und posier-te regelrecht in ihrem Korsett, den Seidenstrümpfen und mit den Brüsten, die über die Spitzenkörbchen des Korsetts quollen, und ihren blonden Löckchen, die auf die Schultern fielen.
    Wunderbar anzuschauen, anzufassen. Momentan bedeutete ihm das jedoch nicht das geringste.
    »Und du willst mir sagen, die verfluchte Mumie ist aus ihrem Mumiensarg gestiegen und hat ihre verfluchten Hände um deinen Hals gelegt! Und du willst mir weismachen, sie hat einen verfluchten Morgenmantel an und Hausschuhe und läuft in dem verfluchten Haus herum!«
    Geh weg, Daisy. Vor seinem geistigen Auge sah er, wie er das Messer aus der Tasche holte, das Messer, mit dem er Sharples getötet hatte, und er sah, wie er damit auf Daisy einstach, in den Hals.
    Es läutete. Sie wollte in dieser Aufmachung doch nicht zur Tür gehen, oder? Blöder Idiot! Was lag ihm schon daran! Die Tür.
    Er drückte sich tiefer in den Sessel und kramte in der Tasche nach dem Messer.
    Blumen. Sie kam mit einem großen Blumenstrauß zurück und stammelte etwas von einem Bewunderer. Er entspannte sich wieder auf dem Sessel. Was sollte das? Warum starrte sie ihn so an?

    »Ich brauche eine Pistole«, sagte er. »Einer deiner feinen Freunde kann mir doch sicher eine Pistole besorgen?«
    »Damit will ich nichts zu tun haben!«
    »Du gehorchst mir!« sagte er. Wenn sie nur wüßte, daß er zwei Menschen getötet hatte. Und fast eine Frau. Fast. Und das Schreckliche war, es hätte ihm Spaß gemacht, Daisy weh zu tun, er hätte gerne ihren Gesichtsausdruck gesehen, wenn ihr das Messer in den Hals eindrang. »Geh ans Telefon«, sagte er. »Ruf deinen nutzlosen Bruder an. Ich brauche eine Pistole, die klein genug ist, daß ich sie unter dem Mantel tragen kann.«
    War sie im Begriff zu weinen?
    »Tu, was ich dir sage«, befahl er. »Ich gehe jetzt in meinen Club und hole mir was zum Anziehen. Wenn jemand hier nach mir fragt, mußt du sagen, daß ich dort bleibe, hast du verstanden?«
    »Du bist nicht in der Lage auszugehen!«
    Er kämpfte sich aus dem Sessel und zur Tür. Der Boden bewegte sich. Er stützte sich am Türrahmen. Eine ganze Weile drückte er die Stirn dagegen. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal nicht müde, verzweifelt, wütend gewesen war. Er sah sie an.
    »Wenn ich zurückkomme und du hast nicht getan, was ich dir aufgetragen habe…«
    »Ich mache es«, wimmerte sie. Sie warf die Blumen auf den Boden, verschränkte die Arme, drehte ihm den Rücken zu und neigte den Kopf.
    Ein Instinkt, auf den er sich immer ohne zu fragen verlassen hatte, sagte ihm jetzt, sich zurückzuhalten. Dies war der Augenblick, sanft, ja fast zärtlich zu sein, obschon ihn allein der Anblick ihres gekrümmten Rückens in Wut versetzte und er mit den Zähnen knirschte ob ihres Schluchzens.
    »Dir gefällt diese Wohnung doch gut, Liebling, oder nicht?«
    sagte er. »Und du magst den Champagner, den du trinkst, und die Pelze, die du trägst. Und das Automobil wird dir auch gefallen, sobald ich es habe. Aber im Augenblick brauche ich ein wenig Hilfe und Zeit.«
    Er sah, wie sie nickte. Sie drehte sich um und ging auf ihn zu.

    Doch er ging schon den Flur entlang und zur Tür hinaus.
    Henrys Truhe war gerade abgeholt worden.
    Julie stand am Fenster und sah zu, wie das schwerfällige, lärmende deutsche Automobil die Straße hinunterfuhr. Im Grunde ihres Herzens wußte sie nicht, was sie in Sachen Henry unternehmen

Weitere Kostenlose Bücher